Sui Zhen - Losing, Linda

Cascine / H'Art
VÖ: 27.09.2019
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
5/10

Beginning, Becky

Die fortschreitende Digitalisierung hat seit Ewigkeiten feststehende Konzepte der Vergänglichkeit ein wenig durcheinandergeworfen. Für die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod ist mittlerweile keine Religion mehr vonnöten, es reicht der Glaube an den Gott der Technologie: Wenn unsere digitalen Fußspuren nicht mehr verschwinden und sich künstliche Intelligenzen immer ausgereifter entwickeln, können wir unser körperloses Bewusstsein dann irgendwann unsterblich machen? Solche Gedanken wie aus dem Brainstorming einer "Black mirror"-Episode mögen befremdlich wirken, doch kommen sie einem vielleicht dann näher, wenn der Tod dies auch tut. Becky Freeman, als Musikerin unter dem Alias Sui Zhen aktiv, erlebte während der Entstehungszeit von "Losing, Linda" die leider fatale Krebsdiagnose ihrer Mutter. Wie schon auf dem Vorgänger "Secretly Susan" zieht sie sich eine Maske auf – in diesem Fall sogar buchstäblich, siehe das unheimliche Latex-Gesicht im Artwork – und nutzt ihr Alter Ego als therapeutische Partnerin. Verlust, Trauer und transhumanistische Ideen werden aus der Perspektive der KI-Titelheldin heraus betrachtet, die sich zwischen echten Emotionen und ihrer algorithmischen Identität aufreibt.

Der Brückenschlag zwischen Mensch, Natur und Technik zieht sich durch die ganze Geschichte elektronischen Art-Pops, angefangen bei Laurie Anderson über Björk bis zu aktuellen Visionärinnen wie Holly Herndon oder Jenny Hval. Sui Zhens Musik kommt dabei der letztgenannten Hval am nächsten, weil die Australierin sich immer zugänglich und organisch darstellt. "Another life" irritiert zunächst mit Geräuschen und Stimmfetzen, doch entwickelt es sich schnell zu einem kleinen Synthpop-Opus mit progressiver, aber nachvollziehbarer Struktur. In "Natural progression" sorgen ein stoischer Drumcomputer und mechanischer Sprechgesang für eine kühlere Ästhetik, untermalen damit Lindas Menschwerdung – der Android wundert sich über seine unnötig wachsenden Haare, doch braucht er sie noch als Symbol, das seinem Gegenüber die Angst vor der Fremdheit nehmen soll: "You see me change into you." Nach dem verkappten Hit "Matsudo city life" sagt sich "Losing, Linda" dann auch als Album vom Elektronischen ab. Das fantastische "I could be there" schleppt einen Bossa-Nova-Rhythmus in ein mediterranes Jazz-Café und kippt in einen Vintage-Soul-Mittelteil mit üppiger Bläserfraktion, den man auf dieser Platte mal überhaupt nicht erwartet hätte.

Den Tod ihrer Mutter thematisiert Freeman nicht direkt, er manifestiert sich eher abstrakt etwa im sehnsuchtsvollen Refrain jenes "I could be there" oder im Gitarren-dominierten Dreampop von "Mountain song". Der Ton bleibt dabei stets optimistisch – zwischen entspannten Reggae-Ansätzen scheint "Different places" zum inneren Frieden zu finden, während "Being a woman" mit lebendigem Bass und Neunziger-R'n'B-Vibe eine Hymne der Selbstliebe hochzieht: "You got to hold yourself / Before you hold someone else." "Perfect place" schiebt das Album zwar gen Ende wieder in eine synthetischere Richtung, blickt aber mit seinem Utopie-Entwurf weiter nach vorn. Es ist vor allem Freemans beruhigende, ohne Effekte auskommende Stimme, die jeden Zweifel an einem glücklichen Ausgang dieser introspektiven Reise wegwischt. Selbst wenn sie im finalen Instrumental "Night river rider" verschwindet, bleibt das Gefühl eines positiven Danachs bestehen. So will "Losing, Linda" weder die große Cyborg-Dystopie aufrufen, noch den Transhumanismus zur (Er-)Lösung verklären, seine letztendliche Botschaft ist viel universeller: Auch nach dem Tod geliebter Menschen gibt es immer eine Zukunft, über die wir selbst bestimmen können.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Another life
  • I could be there
  • Being a woman

Tracklist

  1. Another life
  2. Natural progression
  3. Matsudo city life
  4. I could be there
  5. Mountain song
  6. Being a woman
  7. Different places
  8. Perfect place
  9. Night river rider
Gesamtspielzeit: 48:00 min

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Armin

2019-11-08 11:35:33- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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