Tim Bendzko - Filter
SonyVÖ: 18.10.2019
Frisch aus dem Thermomix
Wäre Plattentests.de so aufgestellt wie die Lyrics-Seite Songtexte.com, wir würden wahrscheinlich ebenso in Jubelstürme ausbrechen. "Seit dem 4. Oktober 2019 hat Tim Bendzko einen weiteren Song in seinem Musik-Repertoire", frohlockt man dort und ergänzt: "'Jetzt bin ich ja hier' heißt die neue Single, in deren Lyrics der talentierte Songwriter alles auf den Kopf stellt und seine eigene neue Welt präsentiert." Oha. Haben wir etwas verpasst? Revolutionäre Zustände im Deutsch-Pop? Hat mit Bendzko endlich mal jemand das Wort "Welt" in einem Song verwendet? Asche auf unser Haupt. Wir hätten sicherlich Notiz davon genommen, hätten wir nicht gerade das vollverglaste Münchener Redaktionsbüro mit Girlanden und Lichterketten geschmückt, um das überdimensionale Bendzko-Konterfei im Büro von Redaktionsassistentin Birgit zur Feier des vierten Albums "Filter" noch mehr zur Geltung kommen zu lassen.
Und wären wir aufmerksamer gewesen, wir hätten auch Hausmeister Erwins Lügendetektor bemerkt, der aufgrund des obigen Songtexte.com-Zitats gleich zweimal rot aufgeblinkt hatte. Okay: Unser Erwin ist wegen seiner früheren 80s-Metal-Band anders sozialisiert und gegenüber gesichtsloser Popmusik recht kritisch, aber ob ein Künstler nun "talentiert" ist, das ist wohl immer auch Geschmackssache. Im Bendzko-Kontext kämpferische Ansagen wie "Und wenn ich glaube, meine Beine sind zu schwer / Dann geh' ich nochmal tausend Schritte mehr" oder "Manchmal löst ein Abgrund in mir Angst aus / Doch ich geh' nicht zurück, ich nehm' nur Anlauf", mit denen der Berliner Sänger in "Hoch" aufrütteln möchte, werden Erwin kaum aus seinem Mittags-Nickerchen aufschrecken. Niemals würden Bendzko und seine Co-Texter, Co-Songschreiber und Produzenten so weit gehen, die Hörer mit musikalischen Experimenten in ihrer Gewohnheit des Nebenbei-Lauschens aufzuschrecken. Dazu sind sämtliche Stücke auf "Filter", abgesehen von kleinen Nuancen, zu ähnlich und zu kantenlos arrangiert. Mal ruhig und balladesk mit käsigen Streichern, mal gibt es einen locker-flockigen Beat, mal Keyboards, mal darf eine Akustikgitarre in den Vordergrund, hin und wieder geht es leicht in Richtung HipHop, garniert mit anderweitigen Effekten.
Seit einer gefühlten Ewigkeit fällt es überhaupt schwer, sich der meterhohen Airplay-Welle deutschsprachigen Neo-Schlagers zu entziehen. Schlager? Ja doch, denn was bitte ist die Single "Nur wegen Dir" sonst, wenn nicht meterdick aufgetragener Kitsch? "Wir müssen uns verlieren, um zu zeigen, wer wir sind / Wo eben trockener Boden war / Stößt jetzt ein Herz auf goldene Adern / Die Wüste fängt zu blühen an / Und Du allein hast Schuld daran." Beinahe 70 Prozent des Gesamt-Programms der einschlägigen Sendeanstalten Deutschlands spült solche und ähnliche Musik in Dauerschleife über die Frequenzen – ein Umstand, der zwar ein großes Repertoire an Songs erschaffen hat, aber auch ein sehr gleichförmiges. Ob nun Giesinger, Weiss, Bourani, Forster, Oerding, Tawil oder eben Bendzko – diese Jungs können teilweise sogar singen und wollen auch sicher nichts Böses, und dennoch fällt es gerade deshalb so schwer, sie im Guten zu unterscheiden.
Nach einigen Durchläufen mussten wir schließlich einsehen, dass die hausinterne Releaseparty ein ziemlicher Flop war. Da konnte sich Birgit noch so viel Mühe mit feinen Snacks und Hochprozentigem machen. Dass "Filter" kaum mehr als ein weiteres zurechtformatiertes Produkt für das (noch) gut funktionierende Geschäftsmodell Deutschpop ist. Und schulterzuckend akzeptieren, dass diese Thermomix-Musik mit schablonenhaften Inhalten, dargeboten in immergleichen Kontexten und Formaten zu immer ähnlichen Themen, vorgetragen von nicht aneckenden jungen Gesichern, so gut ankommt – denn sie passt wunderbar zum Einigeln in der eigenen Komfortzone, zur German Angst vor Veränderung, zur gesellschaftlichen Mutlosigkeit in diesem Land. Wer weckt uns auf? Und wo ist eigentlich Erwin?
Highlights & Tracklist
Highlights
- -
Tracklist
- Jetzt bin ich ja hier
- Dieses Herz
- Nicht genug
- Nur wegen Dir
- Für immer
- Hoch
- Laut
- Trag Dich
- Freier Fall
- Nie mehr zurück
- Vielleicht
- Leise
Im Forum kommentieren
Entenmeister
2023-01-27 18:52:51
Ein Meilenstein.
kapomuk
2020-03-15 17:22:27
Dieselbe Soße wie seit 8 Jahren – kaum umgerührt. Schade, dass ich an deutsche Texte gewisse Ansprüche habe … und auch an Mainstream-Pop. Offensichtlich hoffnungslos altmodisch.
Armin
2019-12-06 19:19:33- Newsbeitrag
Singlekurzinfo:
TRAG DICH. Tim Bendzko singt von Erinnerung, die haften bleibt. Obwohl es irgendwann gelingt, weiterzuziehen, ist man nie wieder ganz frei davon. Was man auch tut, wohin man auch geht - die Person ist immer mit dabei. „Dass ich drüber hinweg bin heißt nicht, dass ich dich vergess.“
Video:
Tim Bendzko TRAG DICH
Armin
2019-11-05 19:27:51
Korrigiert, danke.
solea
2019-11-05 12:18:01
Lol
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