Swans - Leaving meaning

Young God / Mute / Rough Trade
VÖ: 25.10.2019
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Aus der Asche, in die Glut

Swans: schöne und stolze, aber beizeiten auch tierisch aggressive Biester. Genau wie die gefiederten weißen Entenvögel. Insofern hatte sich Michael Gira 1982 einen passenden Bandnamen ausgesucht. Wenn es dieser nicht geworden wäre, hätte es aber auch einen anderen animalischen Bezug geben können, auf den vier Franzosen erst 15 Jahre später kamen: Phoenix. Denn das Kollektiv um Gira scheint sich in stetigen Interationen immer wieder selbst zu überhitzen und zu verbrennen, nur um neu aus der Asche geboren zu werden. Vor kurzem war es wieder so weit: Nach dem monumentalen "The glowing man", das sich trotz aller Klasse doch ganz leicht wie ein allzu ausgetretener Pfad anfühlte, preist Gira das 15. Album "Leaving meaning" als neue Reformierung der Band an.

Ganz ohne vorigen Kontext ist das Werk jedoch nicht, im Gegenteil. Fast alle Mitspieler der Inkarnation zwischen 2010 und 2017 sind zumindest auf einzelnen Stücken dabei, beispielsweise Gitarrist Norman Westberg oder der Percussion-Hüne Thor Harris. Zehn der zwölf Songs wurden als karge Demos auf dem Fundraiser-Album "What is this?" präsentiert, welches leider das bisher schwächste Swans-Release war. (Was wiederum die Karriereleistung angesichts des Gesamt-Outputs aus Studio- sowie Livealben, Outtake-Sammlungen und EPs umso wahnsinniger erscheinen lässt.) "Cathedrals of heaven" ist eine kondensierte Form des letzten Tour-Openers "The knot", der sich selbst wiederum aus "No words / No thoughts" von "My father will guide me a rope up to the sky" speiste. Und mit "Amnesia" findet man eine alte Bekannte von "Love of life" in der Tracklist – gleicher Text, aber sonst völlig neu aufgezogen.

Also überall Wiedergekäutes? Natürlich nicht. "Leaving meaning" fühlt sich definitiv wie der versprochene Schritt weg von den Mammutbrocken seit "The seer" an. Dies macht gleich nach dem eröffnenden und seinem Titel entsprechenden "Hums" das überwältigende "Annaline" deutlich. Eine sanfte, im streicherverhangenen Wohlklang badende Ballade lässt sich durchaus als erstes Ausrufezeichen sehen. Gira besingt Körperlichkeiten als ekstatische Flucht: "I'll follow you down / With our limbs intertwined." Auch die erste Single "It's coming it's real" erinnert mit beschwörendem Mantra und hellen Backingvocals von Anna von Hausswolff und ihrer Schwester Maria eher noch an Giras folkiges Projekt Angels Of Light während der Swans-Pause, anstatt wuchtiges Feedbackdröhnen zu servieren.

Wer nun ein leicht verdauliches, softes Album erwartet, ist jedoch auf dem Holzweg. Ja, "Leaving meaning" verzichtet diesmal auf halbstündige Epen – zwölf Minuten sind das Maximum – und stellt die Stücke eher gleichberechtigt nebeneinander. Ja, akustische, unverzerrte Instrumente werden hier weitaus prominenter und dominanter eingesetzt. Aber ein Spaziergang sind diese immerhin noch eineinhalb Stunden bei weitem nicht. Mit Unterstützung der australischen Ambient-Jazz-Truppe The Necks wagen der Titeltrack und "The nub" einen Blick in Richtung Jazz: das streiche(l)nde Schlagzeug, der Vibe der Improvisation, die freie Struktur. Insbesondere bei "The nub" beeindruckt, wie in den ersten Minuten scheinbar alle Instrumente nur nebeneinander existieren und quasi unbemerkt zu einem fesselnden Groove zusammenfinden. Die Klimax beschreibt der Ausdruck "orchestriertes Chaos" wohl am besten.

"The hanging man" ist mit Giras manischen Vocals – "Eli, cut my spine / Eli, eat my mind" – und der eindringlichen Repetition noch einer der Songs, der am ehesten an die Vorgänger erinnert. Er ist wohl deshalb auch einer der am wenigsten spannenden. "Amnesia" lässt dagegen von seiner psychedelisch-schmissigen Originalversion nichts mehr spüren und vollführt die Apokalypse auf leisen, schamanischen Sohlen. "Sunfucker" ist ein Songtitel, dem man Gira in jedem Fall zugetraut hat, hier funktioniert auch der Rückgriff auf das bewährte Schema, wenn sich das Stück vom nervösen Drängen in einen massiven Marsch wandelt. "Some new things" fadet mit seinem scheppernden Schwung ein, als ob es zuvor schon ewig gelaufen wäre. Ärgerlich: Nicht nur fehlt dieses Stück auf der Doppel-LP, dort sind zu allem Überfluss größtenteils nur gekürzte Versionen der anderen Songs enthalten. Nach der damaligen unschönen Zerhackung und Neukonfiguration von "The seer" auf Vinyl ein weiterer unverständlicher Schachzug.

Zum Abschluss geht "Leaving meaning" ein letztes Mal in die Vollen und greift noch ein wenig weiter in die Vergangenheit. Die industrielle, kakophone Collage aus Stimmen, Hi-Hat-Schlägen und rummelnden Saiteninstrumenten in "My phantom limb" verblüfft und erinnert an die seligen Psychosen von "Greed" aus 1986, besonders dessen hypnotisierenden Titeltrack. "Everything is sacred", predigt Gira, "And I'm flying / And I'm rising", ruft er, steigend und steigend – bis die Platte ihr fulminantes Ende findet. Mit einem weiteren sensationellen Ausrufezeichen. Aus seinen zahlreichen Selbstreferenzen bastelt "Leaving meaning" ein Werk, das sich zugleich als logischer Schritt nach vorne und im Gesamten völlig neu anfühlt. Länger, höher, lauter? Mitnichten – Swans wissen, dass sich Intensität auch anders erzeugen lässt. Willkommen, neuer Feuervogel.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Annaline
  • The nub
  • It's coming it's real
  • My phantom limb

Tracklist

  1. Hums
  2. Annaline
  3. The hanging man
  4. Amnesia
  5. Leaving meaning
  6. Sunfucker
  7. Cathedrals of heaven
  8. The nub
  9. It's coming it's real
  10. Some new things
  11. What is this?
  12. My phantom limb
Gesamtspielzeit: 93:11 min

Im Forum kommentieren

Felix H

2023-06-10 13:13:56

Ich finde es tatsächlich immer noch so gut und sehe es auch als notwendigen Schritt weg vom Stil der "Trilogie" an. Lediglich "The Hanging Man" stört etwas, das ist eher ein Abklatsch von genau dem, was vorher war. Ich mag total die Songs mit The Necks, die dieses Jazzige mit reinbringen. Und der Closer ist eine fantastische Soundwelt.

Fiep

2022-08-21 16:32:52

Hält sich definitiv am wenigsteen von den alben seit neuformation.

boneless

2022-08-21 13:29:34

Trackkürzungen auf Vinyl lt. Wikipedia:

The Hanging Man: 53 Sekunden
Leaving Meaning: 44 Sekunden
Sunfucker: 21 Sekunden
Hums: 14 Sekunden
The Nub: 62 Sekunden
It's Coming It's Real: 13 Sekunden
Some New Things: fehlt komplett

Also nicht die Welt, aber doch irgendwie doof.


Kann jemand erklären, wie und ob sich das bemerkbar macht? Wurden die fehlenden Sekunden einfach am Ende der Stücke abgeschnitten oder faden die Songs eher aus?

testplatte

2020-06-13 14:33:57

ich war im UT, 2 von 3 vorstellungen waren meine. HAMMER-FILM ! der läuft aber gerade so langsam wieder an in einigen städten, es besteht also hoffnung für euch ... uneingeschränkte empfehlung !

boneless

2020-02-04 16:48:55

Sachsen stimmt schon, nur östlicher.

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