Elbow - Giants of all sizes
Polydor / UniversalVÖ: 11.10.2019
Hoffnung schlägt Verderben
Geil, Menschensuppe garniert mit ordentlich Gummi! Elbow wissen Bescheid, das zeigt nicht nur das Cover ihres neuen Albums: Es gibt doch nix Schöneres als ein Tag im Schwimmbad mit gefühlt drei Millionen anderen Menschen, mit denen man sich, ähnlich wie in einer Büchse Sardinen, Haut an Haut auf der Wiese und im Wasser herumtreiben darf. Zusammen statt allein, gemeinsam statt einsam, Herpes für alle statt Hühnersuppe für einen! Überhaupt sollten wir alle die Zeit nutzen, die wir noch mit anderen Leuten auf dieser Welt verbringen dürfen. Denn wenn die Menschheit in dem Tempo weitermacht, hat sie sich ganz schnell selbst aufs Kreuz gelegt. Gewitter, Gewalt und Geröll – auch darüber wissen Elbow Bescheid. Und haben mit "Giants of all sizes" mal eben ihr düsterstes Album aufgenommen. Aber möglicherweise auch ihr hoffnungsvollstes.
Brexit, der Brand im Londoner Grenfell Tower, bei dem im Juni 2017 über 70 Bewohner ums Leben kamen, sowie persönliche Verluste: "Giants of all sizes" ist von einschneidenden Momenten geprägt. Insbesondere der Tod von Frontmann Guy Garveys Vater hinterließ einen bleibenden Eindruck, und doch ist das achte Werk der Briten kein Trauerkloß, sondern die Marschmusik zum Durchhalten. Hinterfragen darf man sich, seine Mitmenschen und die ein Leben lang verfolgten Werte dabei durchaus dennoch. "I don't know Jesus anymore / And an endless sleep is awaiting me / And I haven't finished yet / And I'm not a dog for the end of days / I'm a bird in a hurricane", lauten die ersten Zeilen des Openers "Dexter & sinister". In irgendeinem klischeebehafteten Kriegsfilm würde die Stimme aus dem Off jetzt sagen, dass Jesus dieses Land ohnehin längst verlassen habe, für Garvey bedeutet das lediglich, dass er die Dinge selbst in die Hand nehmen muss. Wunder gibt es immer wieder, klar. Immer wieder bleiben sie jedoch auch aus.
Und überhaupt: Nicht jedes Wunder ist auch ein gutes. Manchmal ist es auch beides, tröstend und traurig, so wie "Weightless": "Hey / You look like me / So we / Look like him", singt Garvey da liebevoll zu seinem neugeborenen Sohn und gleichermaßen herzzerreißend über seinen kurz zuvor verstorbenen Vater. Ein Leben endet, ein anderes beginnt. Dass der 45-Jährige das Licht im Dunkel findet und seine Emotionen derart gebündelt einsetzen kann, um daraus nicht nur einen solchen Song, sondern gleich ein ganzes Album zu machen, wäre überraschend, wenn – ja, wenn es eben nicht dieser Guy Garvey wäre, von dem hier die Rede ist. Jener Guy Garvey, der seinen ganzen Kummer, seine Trauer, seine Wut in das von Streichern zärtlich getragene "My trouble" packt und auf der anderen Seite eine kleine Perle rauskommen lässt. Garvey hat nicht nur seinen Vater verloren, sondern auch zwei seiner engsten Freunde und, zumindest für eine Weile, auch seine Hoffnung. Er hat sie wiedergefunden. Er lässt seine Hörer daran teilhaben.
Das kann auch mal ganz untypisch klingen, so etwa in "Doldrums", in dem Elbow sich an den Beatles zu besten "Revolver"-Zeiten orientieren und dem Weltuntergang trotzig beide Mittelfinger ins Gesicht strecken. "This day is made of hope and space / And home like I have never known" – vielleicht ist gerade das etwas unstrukturierte, jedoch keinesfalls schlechte "On Deronda road" der stellvertretende Track des Albums, der dessen Botschaft am besten trägt. Der Tag nach dem vermeintlichen Untergang ist der erste Tag des Wiederaufbaus, und manchmal sind eben nicht alle Menschen von gestern noch dabei. Das melancholische, stellenweise tonnenschwere "The delayed 3:15" schrieb die Band, während sie in einem Zug in Manchester festsaß, der aufgrund eines Schienensuizids mehrere Stunden zum Stillstand kam. Der Schock und das Entsetzen brachte das Quartett enger zusammen, es machte ihnen das eigene Glück einmal mehr bewusst. Nein, nicht jede Geschichte endet mit einer Umarmung und glücklichen Gesichtern. Aber auch das wissen Elbow: Im Kampf des Verderbens gegen die Hoffnung muss Letztere immer gewinnen. Sonst – und das ist sicher – sind wir alle verloren.
Highlights & Tracklist
Highlights
- The delayed 3:15
- My trouble
- Weightless
Tracklist
- Dexter & sinister
- Seven veils
- Empires
- The delayed 3:15
- White noise white heat
- Doldrums
- My trouble
- On Deronda road
- Weightless
Im Forum kommentieren
Robert G. Blume
2019-11-15 11:49:31
Mein Highlight (in Berlin) war auf jeden Fall, wie Garvey das Publikum dirigierte wie ein Chorleiter, das in "Kindling" einbaute und "One Day Like This" schließlich mehrstimmig von den Zuschauern gesungen wurde, ohne einen Ton von der Bühne.
Elbow sind eh schon eine fantastische Liveband (Sound, musikalische Perfektion), aber der Kontakt zum Publikum, das macht das Ganze zum Erlebnis. Garvey hat das einfach besser raus als die meisten anderen Bands, vielleicht von Die Ärzte abgesehen.
timo
2019-11-15 11:38:40
Highlight in Köln war, als Guy nach dem Wochentag fragte. Er war sichtlich begeistert, dass an einem schnöden Mittwoch so viele gekommen waren (es war ausverkauft) und dazu noch so eine tolle Stimmung erzeugt haben.
musie
2019-11-15 07:43:03
Beeindruckend, wie wir die Elbow-Konzerte im deutschsprachigen Raum abdecken :-)
Felix H
2019-11-14 23:11:30
In Berlin gab es wiederum kein "My Sad Captains", aber sonst war es rundum gelungen. Garvey ist auch einfach ein sympathischer Typ. Bester Moment, als er der Gesangseinsatz in "Mirrorball" verbockt hatte. :-D
dieDorit
2019-11-14 18:00:45
Hatte Elbow gar nicht auf dem Schirm, wäre sonst gestern auch gern in Köln mit dabei gewesen.
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