65daysofstatic - replicr, 2019
Superball / SonyVÖ: 27.09.2019
Das Kunstwerk in Zeiten der Apokalypse
Die sechs Jahre, die zwischen diesem und 65daysofstatics letztem regulären Album "Wild light" liegen, machen anschaulich klar, dass Post-Rock in letzter Zeit nicht gerade in aller Munde war. Viele bekannte Bands des Genres gingen neue Wege, Mogwai veröffentlichten einen exzellenten Soundtrack zur Dokumentation "Atomic" und auch 65daysofstatic konnten mit ihrer musikalischen Umsetzung des ansonsten enttäuschenden Videospiels "No man's sky" überzeugen. Nun bringt die Gruppe aus dem englischen Sheffield wieder ein reguläres Album heraus. Das heißt aber nicht, dass "replicr, 2019" nicht trotzdem einer übergeordneten Idee folgt. Man kann 65daysofstatic immer mehr als Soundtrack-Band bezeichnen: Es gibt keine Lyrics, aber es entstehen Bilder vor dem geistigen Auge und ein bestimmtes Gefühl beim Hören dieses Albums.
Es lohnt sich, den Pressetext und die Aussagen der Bandmitglieder rund um die Veröffentlichung zu studieren. Sie bestätigen den Eindruck, dass das Gefühl und der Sound, den "replicr, 2019" erzeugen soll, keine allzu positiven sind: "42 Minuten der Furcht. Ein Album, dass direkt in die abgrundtiefe Zukunft des Spätkapitalismus starrt. Ein melancholischer, schlafloser Soundtrack der Beschleunigung." Mit diesem Hintergrundwissen hört man die Techno-Beats, die Gitarrenwände und die Synthesizer wie der interpretationsfreudige Kunstkritiker im Museum. Den Track "stillstellung" bezieht die Band selbst auf einen Begriff des kritischen Theoretikers Walter Benjamin. In seinem Aufsatz "Über den Begriff der Geschichte" bezeichnet er "Stillstellung" als das herausgelöste Bewusstsein eines bestimmten Augenblicks, das Realisieren eines historischen Moments – etwa, wenn man eine Revolution miterlebt.
Genau das versucht "replicr, 2019": das Bewusstsein unserer Zeit als Synthese aus manifestierter Vergangenheit und spekulativer Zukunft einzufangen. Die Gefahren des technischen Fortschritts zu Lasten realer menschlicher Beziehungen und die apokalyptische Gefahr des Klimawandels sind hier die wichtigsten Themen und die Musik auf diesem Album erweckt nicht gerade den Eindruck, dass 65daysofstatic eine positive Lösung dieser Probleme erwarten. "Sister", "interference_01" und "z03" belegen diese Vermutung am besten, denn die Stücke erzeugen ein Gefühl der Unbehaglichkeit wie sonst nur eine Kafka-Geschichte. Aber wenn man einen Song ganz besonders empfehlen kann, dann "trackerplatz". Unglaublich traurig, aber auch unglaublich schön – und im Kontext des Albumkonzepts ein vielsagender Closer. Natürlich ohne Text, aber mit umso mehr Reverb. Wie auch insgesamt die dunkle Stimmung für die markanteste Veränderung im ansonsten bekannten Sound zwischen Post-Rock und Elektro sorgt.
Das Problem ist daher, dass "replicr, 2019" die relevantesten Themen des Zeitgeistes mit einer der irrelevantesten musikalischen Stillrichtungen behandelt. 65daysofstatic hätten problemlos die Fähigkeit, die Instrumentals für einen etwas experimentelleren Trap-Rapper beizusteuern, doch in dieser Form dürften diese Songs wohl höchstens als Hintergrundmusik zu einem Film einem größeren Publikum bekannt werden. Denn ohne den ganzen theoretischen Hintergrund wenigstens einmal nachgelesen zu haben, wird es dem Hörer schwer fallen, dieses Album zu erfühlen. Immerhin: Einen guten Soundtrack für eine "Black mirror"-Folge gäbe es allemal ab.
Highlights & Tracklist
Highlights
- trackerplatz
- stillstellung
Tracklist
- pretext
- stillstellung
- d¦¦ t/ ¦ ¦ ¦
- bad age
- 05¦¦ ¦ 1¦
- sister
- gr[]v-_s
- popular beats
- five waves
- interference_1
- []lid
- z03
- u¦ ¦¦ ¦ th ¦ r¦d
- trackerplatz
Im Forum kommentieren
Kai
2019-10-10 00:03:52
Ich sage nicht, dass die Hörerschaften ähnlich sind, sondern dass bei beiden die Aussage auf offensichtlich ist. Eben im Gegensatz zu der 65dos Scheibe hier.
Theo Flint
2019-10-09 22:44:45
"Der einzige Satz, wo ich der Kritik tatsächlich zustimmen würde, ist, dass es problematisch ist, von einer "der irrelevantesten Musikrichtungen" zu sprechen. Genres mit so deutlichen Worten nach "Relevanz" zu kategorisieren, ist irgendwie merkwürdig im Zeitgeist verhaftet gedacht. Musik bzw. Kunst muss doch nicht "trendy" sein, sondern vielleicht dem Trend sogar mal entgegensetzen"
-> Ja auf jeden Fall muss sie das, ich würde dir sogar soweit zustimmen, dass das vielleicht die ganze Idee der Kunst ist, eine freie Welt jenseits von Gesetzen und Trends zu sein. Der Satz war auch nicht als negative Kritik am Sound von 65daysofstatic gedacht, sondern eher als Kommentar im Sinne der Idee des Albums.
Statement der Band:
„A kind of historical materialist music then, a title that speaks to the politics weaved throug-hout this record, never explicit but made clear through its relentless re-cataloguing of mul-tiple musical histories, its interrogations of failed futures.“
-> Da sieht man ja, dass die Band dieses Album von sich aus im Zeitgeist verankert sieht, weil sie historische Materialisten sind, weil sie die Zukunft zum Guten verän-dern und verbessern wollen. Und als Materialist habe ich dann Hip Hop darauf bezogen, weil das nun mal die „trendy“ Musik ist, und ich würde auch sagen, die Musik die aktuell am relevantesten ist. Es war also nicht als Kritik, sondern quasi als politi-sche Tatsachenfeststellung aus Bandsicht gemeint, dass wenn Sheck Wes über Walter Benjamin rappen würde, jenes eine größere Auswirkung hätte, als es dieses Album hat. Darauf bezog sich auch der Satz mit „Black Mirror“. Als Idealist kann man sagen, die Leute sollten sich lieber mit Historischem Materialismus, Kritischer Theorie und diesem Album beschäftigen, als einfach Black Mirror zu schauen, aber als Materialist sieht die Realität aktuell halt so aus.
„Und da sag mir mal einer was das für ein Genre ist. =)“
-> Deshalb hab ich auch nichts dazu geschrieben, weil ich den theoretischen Hin-tergrund wichtiger fand als Genreeinteilungen. Find die hier in den Beiträgen genannten Kategorien und Referenzen machen aber alle Sinn und ich hätte echt noch mehr Richtung Autechre verweisen können.
"...Schlager und Moneyboy beschäftigen. Da gibts die Aussage auf dem Silbertablett."
-> Find ich schwierig so zu sagen. Ich finde Schlager (bzw. die Musik die bei so Sauffes-ten kommt) grundsätzlich scheiße weil sie eine falsche Solidarität erzeugt, die Leute kommen nur miteinander aus, weil sie trinken und Frauen zu Objekten herabstufen können, und weil sie ansonsten eine Biedermeier Mentalität vermittelt kriegen, die einfach nur rechtes Gedankengut ist. Money Boys Aussage ist glaub ich einfach, dass er crazy ist, nur macht worauf er Bock hat und keinen Fick gibt, was das ziemliche Gegenteil von Schlager(hörern) ist. Ich glaub zu beiden Hörergruppen könnte man ziemlich tiefe psychologische Untersuchungen durchführen und es gibt weniger Überschneidungen in den Hörergruppen als du denkst.
Klaus
2019-09-30 21:02:50
Sehr schönes Album. Den Ambientkram haben sie ja schon bei No Mans Sky so gut hinbekommen.
Watchful_Eye
2019-09-30 01:16:59
Ach, noch was.
Der einzige Satz, wo ich der Kritik tatsächlich zustimmen würde, ist, dass es problematisch ist, von einer "der irrelevantesten Musikrichtungen" zu sprechen. Genres mit so deutlichen Worten nach "Relevanz" zu kategorisieren, ist irgendwie merkwürdig im Zeitgeist verhaftet gedacht. Musik bzw. Kunst muss doch nicht "trendy" sein, sondern vielleicht dem Trend sogar mal entgegensetzen.
Zustimmen würde ich, wenn der Rezensent stattdessen geschrieben hätte, dass das Sounddesign eher nach den 00er Jahren als nach "2019" klingt. (Ohne, dass ich jetzt technisch sauber erklären könnte, woran das liegt.) Das kann man bei einem betont futuristischen Album mit dem Wort "2019" im Titel kritisieren, wenn man denn will.
Watchful_Eye
2019-09-30 01:06:21
Ich finde die Rezension ehrlich gesagt sehr gut. :)
Wobei ich mich für die klagenden Kommentare bedanken muss, denn sonst hätte ich das wahrscheinlich nicht angehört. Bin jetzt nach einem Durchgang nicht "geflasht", aber es war unterhaltsam und 1-2 Tracks auch mehr als das. Ich konnte die Assoziationen der Rezension sehr gut nachvollziehen. 6/10 könnte stimmen, aber das ist für mich nichts negatives.
Ich kannte die Band bisher nur vom Namen.
____
"Bähm. So derart zerfickte Soundkulissen hab ich bisher noch nich gehört und ich kenne mich zumindest ein wenig mit experimenteller elektronischer Musik aus.
"z03" würde ich als Anspieltipp vorschlagen, da kriegt man den Wahnsinn der Platte komprimiert auf einen Track.
Und da sag mir mal einer was das für ein Genre ist. =)"
Ich würde sagen, irgendwo zwischen Ambient und IDM. Die Stimmung erinnert mich an "Dead Cities" (FSOL) und "Perdition City" (Ulver), die von dir genannte "Zerficktheit" an IDM-Künstler wie Autechre.
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