Tool - Fear inoculum

Volcano / RCA / Sony
VÖ: 30.08.2019
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

4,872 days

War was? Mal eben sind über 13 Jahre Warterei weggewischt: Tool veröffentlichen ein neues Album. Das ist alles anderes als eine Selbstverständlichkeit in Anbetracht zwischenzeitlicher legaler Querelen und Verzögerungen beim Schaffensprozess. Und doch wirkt "Fear inoculum" so, als wäre seit dem tollen "10,000 days" eben nicht eine Musikbusiness-Ewigkeit vergangen. Es klingt in keiner Sekunde nach dem Jahr 2019 – und generell kann man dieser ausschweifenden Platte höchstens diesen Vorwurf machen: sich ein wenig zu sehr im eigenen Morast zu suhlen, kaum Grenzen auszuloten. Tool being Tool. Was bringt's jedoch, wenn die Stücke dahinter so absolut fantastisch konstruiert sind? Sprach damals, ganz, ganz früher, Oliver Ding anlässlich "Lateralus" von einer "allzu akademische[n] Umsetzung", greift "Fear inoculum" mit seinem kristallklaren Klangbild und seiner berechnenden, kühlen Eleganz vor allem diesen Faden wieder auf.

Tool sind indes so großzügig in der schizophrenen Anlage des Albums, dass es im Grunde zwei charakterlich verschiedene Versionen von "Fear inoculum" gibt. Auf der einen Seite stehen sechs Songmonolithen des progressiven Rock und Metal, keiner unter zehn Minuten. Jeder davon beginnt leise und atmosphärisch, häufig ist die Percussion Tribal-artig geprägt, die Vocals von Maynard James Keenan lassen sich Zeit. Ein erster kleiner Höhepunkt folgt und die Songs driften in einen instrumentalen Jam ab. Vor allem diese Zwischenteile heben "Fear inoculum" von den Vorgängern ab: Kein Tool-Album war bislang so improvisationsorientiert. Am Ende kehrt Keenan für einen meist atemberaubenden Höhepunkt zurück – ausgerechnet der vorab veröffentlichte Titeltrack hält hier als Ausnahme vergleichsweise meditativ den Deckel drauf.

Auf der anderen Seite stehen vier Interludes, jedes von einem Bandmitglied konzipiert. Drei davon sind jedoch der digitalen Version vorbehalten: das spinnerte Vocal-Experiment "Litanie contre la peur", das hübsch atmosphärische "Legion inoculant" und das albern zwitschernde "Mockingbeat" – welches durch seine Platzierung am Ende mehr wie einer dieser Hidden Tracks von CDs aus den Neunzigern wirkt. Tool sind für kreative, bereichernde Einfälle für solche Tracks berühmt, man denke an das buzzende "(-) ions", das spannende "Lost keys (Blame Hofmann)" oder das schnurrende "Mantra". Natürlich nicht zu vergessen: "Die Eier von Satan". Insofern müssen diese Zwischenspiele auf "Fear inoculum" enttäuschen – und doch sind sie hilfreich. Um Luft zu holen nach den ausufernden Monstern, um die Sache aufzulockern.

Nur Drummer Danny Careys "Chocolate chip trip" hat es auf die aufwändige, mit Bildschirmpanel und Stromanschluss ausgestattete CD-Version geschafft. Bis vor ein paar Tagen lautete die Songbeschreibung auf dem Lyrics-Portal Genius "Danny Carey being an octopus" und dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Elektrisches Knistern baut sich auf und Carey spielt ein fulminantes Solo, das sich trotz des Freakouts immer am darunterliegenden Beat orientiert. Für sich genommen absolut großartig, dennoch bleibt das Stück auf der physischen Version zugegebenermaßen ein Außenseiter, der den inneren Monk etwas fuchsig macht. Schließlich hätte es so einfach sein können: eine Version, die abwechslungsreicher daherkommt und trotz längerer Spielzeit etwas verdaulicher ist und eine nur aus den sechs Longtracks bestehende Variante, die in sich ge- und verschlossen ist, aber durchgehend zum Eintauchen einlädt.

Denn mag "Fear inoculum" an der Oberfläche etwas glatt und gleichförmig wirken, liegt es daran, dass die Stücke mehr als sonst noch intensives Hören erfordern. Hooks, wie sie "Schism" oder "Vicarious" hatten, sind rar gesät oder zumindest nicht offensichtlich vorhanden. Immerhin die wiederholte Aufforderung "Exhale, expel" im Titeltrack brennt sich ein, ebenso Keenans stockendes Selbstbekenntnis über den Status der Band in "Invincible": "Warrior struggling to remain relevant / Warrior struggling to remain consequential." Das wütende "7empest" lädt gleichermaßen zum Ziehen von Realitätsparallelen in Hinblick auf das Klagewirrwarr seit 2007 ein, welches seinen Ursprung in Artwork-Streitigkeiten hatte. Fast 16 Minuten dauert dieser Brocken und Keenan spuckt wenigstens einmal Galle. "Try as you may / Feeble your attempt to atone / Your words to erase all the damage cannot." Adam Jones' Gitarrensolo drückt derweil seine Finger um den Hals.

Der sorgenvolle Blick auf die Menschheit, den Keenan schon bei Songs wie "Disillusioned" von A Perfect Circles "Eat the elephant" zelebrierte, kommt auch auf "Fear inoculum" nicht zu kurz. Der Titel des famosen "Descending" spielt auf die Lage des Planeten an, der Text spricht vom "epilogue of our own fable". Meeresrauschen zu Beginn, Meeresrauschen am Ende. Dazwischen kommt und geht die Menschheit, letztlich von sich selbst gerichtet. "Sound the dread alarm / Through our primal body" – vielleicht wacht ja doch jemand auf. "Culling voices" überführt elendige Internet-Diskussion auf die metaphorische Ebene: "Heated altercations we never had." Es ist er sanfteste, melodischste Song des Albums und hätte bis auf den energischen Schlusspart ohne Blinzeln auch bei A Perfect Circle stattfinden können.

Und schließlich ist da noch das absolute Meisterstück "Pneuma", dessen Name religiös als Heiliger Geist oder philosophisch als Prinzip der Natur verstanden werden kann. Nicht nur thematisch verweist die Spiritualität auf "Lateralus", in der schlichtweg bestaunenswerten Klimax überkommt einen auch wieder die kitzelnde Gänsehaut, welche ein Song wie "Parabola" mit einer tiefen Euphorie damals und heute hervorrufen kann. "We are spirit bound to this flesh", singt Keenan und dennoch fühlt man fast, wie sich die Verbindung in Ekstase löst. Später heißt es "Child, wake up / Child, release the light" – man hat nicht die leisteste Ahnung, was es bedeuten soll, und versteht es jedoch gleichzeitig vollkommen.

"Fear inoculum" ist zwar im weitesten Sinne Fanservice, allerdings auf einem so hohen Niveau, dass man dem Quartett keinen Strick daraus drehen kann – abgesehen vielleicht vom billig aussehenden Cover, das meilenweit von Kunstwerken wie "Lateralus" oder "Ænima" entfernt ist und scheinbar in fünf Minuten hingeschissen wurde. Ob die konzisere, puristische Version oder das lockere, verspieltere Digitalerlebnis zu bevorzugen ist, mag von der Wahrnehmung, vielleicht sogar von der eigenen Tagesform abhängen. Die Stücke belohnen in jedem Fall besonders genaue Beschäftigung, besonders tiefes Eintauchen in die geschaffene Klangwelt. Insofern führt die erste Hälfte des Albumtitels in die Irre: Angst vor dieser in kilometerhohe Erwartungen hineinveröffentlichte Platte muss niemand haben. Ein Inokulum bezeichnet hingegen den Teil eines Erregers, der eine Infektion hervorruft. Ansteckend ist in diesem Fall vor allem die Begeisterung.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Pneuma
  • Chocolate chip trip
  • 7empest

Tracklist

  1. Fear inoculum
  2. Pneuma
  3. Litanie contre la peur
  4. Invincible
  5. Legion inoculant
  6. Descending
  7. Culling voices
  8. Chocolate chip trip
  9. 7empest
  10. Mockingbeat
Gesamtspielzeit: 86:43 min

Im Forum kommentieren

Sroffus

2024-06-09 22:08:02

Nee, das Motiv war irgendwas mit romantische Landschaft und so.

VelvetCell

2024-06-09 22:03:49

Vielleicht, weil die den Bandnamen auf dem Shirt visualisiert haben.

Sroffus

2024-06-09 22:02:55

Fötusgulasch haben damals sogar nur 5 Euro für ein Shirt genommen!

VelvetCell

2024-06-09 21:57:17

Zur Erinnerung: Shirts von The Cure gab es auf der letzten Tour fürn Zwanni.

Robert ist einfach der Beste.

Chron-o John

2024-06-09 19:21:17

Trikots sind Schrott. Wer so viel dafür ausgibt, unterstützt nur die DFB Mafia!einself

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