Ilgen-Nur - Power nap
Power Nap / MembranVÖ: 30.08.2019
Vierfach unterstrichen
Okay, Leute, macht jetzt keinen Fehler. Wer diese Rezension liest und danach auf dem Notizzettel mit den Alben, die er bald ganz unbedingt anhören sollte, nicht Ilgen-Nurs Debüt "Power nap" an oberster Stelle stehen hat, ist ein Trottel. Sorry für die drastischen Worte, aber irgendwie muss man es ja begreiflich machen, sollte das noch immer nicht klar sein. Es ist ja nicht so, dass die Wahl-Hamburgerin seit ihrer 2017er EP "No emotions" nicht schon genug Vorschusslorbeeren bekommen hätte – der Musikexpress verlieh ihr den Titel "Slacker-Prinzessin", andere Medien kürten sie sogar zur "Indie-Queen", Tocotronic nahmen sie mit auf Deutschland-Tour zu "Die Unendlichkeit" – aber wir haben hier noch einige warme Worte extra in petto, damit auch der letzte Musikfreund da draußen weiß, was zu tun ist. Die erwähnte EP jedenfalls war schon mal ein guter Vorgeschmack für die erste "richtige" Platte von Ilgen-Nur Borali, wie die junge Frau mit vollem Namen heißt. Ein bisschen roher noch, obwohl auch von Max Rieger produziert, aber schon ein guter Gradmesser. "Power nap" ist cleaner, aber dafür umso ausgefeilter.
Das merkt man direkt in der ersten Single "In my head", die auch als Opener der Platte fungiert. Zwar lässt Ilgen-Nur hier einen zackigen Beat marschieren, hält aber die Gitarren immer genau so in Zaum, dass sie nicht überborden. Was die Lead dabei in diesem Rahmen veranstaltet, ist einfach nur großartig und auch die selbstbefreiende Erkenntnis des Songs ist wunderbar: "I might be the happiest when I'm on my own." Fear of missing out, am Arsch. Das folgende "Nothing surprises me" – die dritte Auskopplung – behält den reflexiven Charakter bei, auch die soft klimpernden Saiten sind wieder mit von der Partie. In "Soft chair" spielen sie dann endgültig die Hauptrolle und man darf hier ganz unverfroren an The Smiths denken, nur dass Ilgen-Nur eine so viel wärmere Stimme als Morrissey hat, dennoch aber ähnlich viel Leidenschaft in ihren Gesang legt, ohne dabei je so exaltiert zu wirken. Die Sängerin fühlt sich im Hier und Jetzt vollkommen wohl und quittiert dies mit der simplen aber wirkungsstarken Zeile: "I never felt so alive." In den letzten 30 Sekunden tritt dann noch ein fröhliches Saxofon ins Geschehen und rundet einen quasi perfekten Track ab.
"TV" dagegen hat ein The-National-Schlagzeug im Gepäck und traut sich erstmals auf "Power nap" richtig auszurasten: Kurz nach der Songhälfte überschlagen sich nicht nur die Drums, sondern auch Ilgen-Nurs Stimme hallt ganz weitläufig, wenn die Sängerin den Vergleich mit einem medienvermittelten Idealbild verweigert. Die Neuköllner LGBTQ-Kneipe "Silver Future" beehrt Ilgen-Nur mit einem eigenen Track, der im Refrain den deftigsten Ohrwurm der Platte bereithält, während abermals die Lead-Gitarre bezaubernd aufspielt. Bei etwa zweieinhalb Minuten leitet dann eine Bridge ein, die zunächst das Tempo kappt, sich dann langsam steigert und schließlich losgaloppiert, um dann wieder zu brechen und dem Chorus noch einmal Platz zu machen: Wow. Genauso toll: die zweite Single "Easy way out", die zunächst eine verzerrte Elektrische einspielt und dann im Uptempo nach vorne drängt. Die Kulisse ist bedrohlich: "Don't take the easy way out", mahnt die Sängerin kraftvoll, während drumherum ein Sonic-Youth-artiges Gewitter tobt.
Ähnliches kann man auch von "You're a mess" behaupten, das noch eine Spur tiefgreifender geraten ist. Mit der frei zitierten Olli-Schulz-Gedächtniszeile "You break my heart / I break your spine" macht Ilgen-Nur ihrem Ärger Luft, was sich wiederum in den tosenden Gitarren des Tracks entlädt. Die Instrumentierung steht und fällt mit dem besungenen Gefühl: Zur Songmitte kehrt die Einsicht ein, die Musik wird langsamer und verstummt schließlich ganz, bevor die Singer-Songwriterin noch einmal ihren ganzen Frust in den Äther keift. Es ist der beste von vielen tollen Titeln auf "Power nap", dem man das Attribut "All killer no filler" getrost anheften darf. Das gilt auch für die, gemessen an der Gesamttonalität des Albums, untypische Klaviernummer "Deep thoughts", die als Closer allerdings weniger störend, sondern vielmehr abrundend wirkt. Auch weil die Zeile "all alone with my deep thoughts and on my own", noch mal Bezug zur Aussage des Openers nimmt.
Die Singer-Songwriterin berichtet in ihren Songs davon, wie es ist, Anfang 20 zu sein, eine Frau zu sein, anders zu sein, als die meisten und ein Leben zu führen, dass eben nicht 9 to 5 funktioniert. Mit solchen "sad songs about growing up" ist die Gute freilich nicht allein, aber ihre Erzählungen wirken so wunderbar unkitschig und unverfälscht, so direkt, als würde sie einfach singend wiedergeben, was ihr gerade vor Augen kommt. Dazu hat sie ein Talent für Melodien, die nicht die billige Hymne suchen müssen, um wahnsinnig eingängig zu sein. Das ganze Album klingt, als hätte Ilgen-Nur einfach angefangen, loszuspielen und das wäre dabei herausgekommen, aber nicht gejammt, sondern einfach völlig natürlich, mithin aber fast unwirklich klasse. Ilgen-Nur macht Musik, die eigentlich zu gut ist, um aus Deutschland zu kommen, will man fast anmerken; Snail Mail oder Soccer Mommy – um nur mal zwei internationale Vergleichsgrößen ähnlichen Alters zu nennen – können das jedenfalls keineswegs besser als diese junge Frau aus dem Schwabenland. Also, Leute, macht jetzt keinen Fehler. Ab auf die Liste mit "Power nap", am besten vierfach unterstrichen und mit Textmarker bunt markieren.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Soft chair
- Silver Future
- Easy way out
- You're a mess
Tracklist
- In my head
- Nothing suprises me
- Soft chair
- TV
- Silver Future
- Easy way out
- New song II
- You're a mess
- Clean sheets
- Deep thoughts
Im Forum kommentieren
Blablablubb
2020-01-07 22:19:19
@Der Wanderjunge Fridolin: Kann Dir insbesondere zu deinem letzten Absatz nur beipflichten. Klar, die Internetanonymität wird schon an vielen Stellen ausgenutzt um die "Sau" rauszulassen, aber andersherum wird mittlerweile auch gern einfach jede normale Kritik als "Hate" abgetan. Auch mein Eindruck.
Für die Sängerin ist es jetzt ja sogar eine gute Werbung...
noise
2020-01-07 21:32:50
Kannte die Frau bislang gar nicht und bin nur durch ihre Kritik an diesem Forum drauf gestossen.
Finde diese Slacker Mucke eigentlich gut gelungen. Mag diese Art von Musik. Könnte nur auf Dauer etwas eintönig werden, was auch an der fast immer gleichen Tonlage der Sängerin liegt. Passt aber andererseits auch zur Musik.
edegeiler
2020-01-07 09:33:00
Hate ist Englisch, weil Englisch die Sprache des Internets ist.
Der Wanderjunge Fridolin
2020-01-06 23:59:42
Erstens) Woraus besteht nun genau der "Hate"? Ist es nicht vielmehr so, dass sie berechtigte oder wegen mir auch ungerechtfertigte Kritik sowie ein paar relativ harmlose Sticheleien zu "Hate" uminterpretiert und die Dinge entsprechend überhöht, um sich dadurch als Person wichtiger zu fühlen? Womit wir bei zweitens wären.
Zweitens) Es ist ja allgemein bekannt, dass es vor allem im Internet die schlimmste Strafe ist, nicht wahrgenommen zu werden. Darin besteht das Motiv, vermeintlichen "Hate" herbeizureden, eben um sich durch selbigen wahrgenommen zu fühlen. Lieber Hate als Ignoranz.
Drittens) Weshalb kann man das Wort Hass eigentlich nicht auf Deutsch über die Lippen bringen? Mir fällt auf, dass der Begriff in der deutschen Internetsprache quasi abgeschafft und durch "Hate" ersetzt wurde. Warum? Klingt Hass doch irgendwie zu scharf und direkt, sodass man ihn sich durch die Verwendung des englischen Begriffes erst irgendwie schmackhaft reden muss? So klingt es nämlich in der Tat wie ein saucooles Lifestyleereignis, auf das man fast schon neidisch sein müsste. Hass klingt hingegen recht unattraktiv. Aber hey, ich werde gehatet.
slowmo
2020-01-06 23:28:38
In dem Interview liest sie sich doch sehr sympathisch.
Verstehe auch nicht warum man aus Dingen wie Körperbehaarung immer gleich so ein Politikum machen muss. Weder in die eine, noch in die andere Richtung. Das soll doch jede/r handhaben wie er/sie möchte. Hauptsache man fühlt sich selbst damit wohl.
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