Fliehende Stürme - Neun Leben

Alice In ... / Dark Dimensions / Broken Silence
VÖ: 05.07.2019
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Alle Katzen schwarz

Cat content gefällig? Anhand einer Frage, die nicht zufriedenstellend geklärt ist? Also: Wie viele Leben haben Katzen denn nun? Sieben, weil der Symbolwert dieser Zahl in den verschiedensten Lebensbereichen – Weltwunder, Todsünden, Zwerge – schon immer enorm hoch war? Oder doch neun, wie nicht nur oft der Volksmund, sondern auch John Lennon im Song "Crippled inside" behauptet? Und wer wären wir, dem coolsten aller Beatles keinen Glauben zu schenken? Andreas Löhr interessiert das nicht sonderlich: Ungeachtet des vermutlich kratzbürstigen Stubentigers auf dem Cover des zehnten Albums seiner Band Fliehende Stürme ist es hier jedes der neun Stücke, das ein Eigenleben führt – beinahe wie auf "10 Lieder für Freunde" von den musikalisch geistesverwandten Hanseaten Der Rest. Womit wir flugs bei der Genrebezeichnung "Depro-Punk" wären.

Denn auch wenn Löhr diese von sich weist, fügt sich das Begriffspaar schon in "Die Königin darf nicht fallen" aufs Beste respektive Schwärzeste zusammen. Das Tempo ist hoch, die Gitarren wühlen tieffrequenzig, die belegte Stimme barmt – womöglich der zwingendste Opener, mit dem Fliehende Stürme seit "Alles falsch" von ihrem 1995er-Klassiker "Fallen" eine Platte losgetreten haben. Der Selbstekel, der sich dort auch durch die Songs "Spieler" oder "Zwei Namen" zog, ist knapp 25 Jahre später zusehends kryptischen Einlassungen gewichen: Zeilen wie "Nur noch Fragen, kein Verstehen / Auseinandertreiben, nur einen Teil gesehen" oder "Ein brennender Kuss von Nero / Mephisto flüstert ein Nein" könnten sowohl von Trennungsschmerz als auch von der Absurdität des Daseins künden. An ihrer pastoralen Wucht ändert diese Unwägbarkeit nichts.

Und zumindest den Melancholiker kann der gebürtige Stuttgarter auf "Neun Leben" nie verleugnen. Nicht einmal im ähnlich furiosen "Entstehen und verschwinden" samt peitschender Snare und stolz leidender Protagonistin oder beim getriebenen Punkrocker "Innenstadt", der schon im Titel vielleicht nicht ganz zu Unrecht auf "Innenstadtfront" von der Fehlfarben-Keimzelle Mittagspause verweist. Zudem dockt dieses Album mehr als einmal auch bei Gothic und Dark Wave an – etwa wenn die wunderbar locker pluckernde Single "Puppen" mit einem kleinen ohrwurmigen Sitar-Dingsbums exotische The-Cure-Momente wie "Siamese twins" oder "Kyoto song" heraufbeschwört. Und im Basslauf von "Sensation" spiegelt sich The Sisters Of Mercys "Lucretia my reflection" plötzlich in einem zarten elektronischen Schimmer von Future-Pop – egal, wie durch der auch sein mag.

Doch auch trotz der schwergewichtigen Kirchenorgel, die "Das Bild" einleitet, bricht sich mittels ungestüm hackender Riffgewitter immer wieder unbändiger Zorn Bahn – in diesem Stück womöglich über Aluhutträger, die überall fake news wittern, oder über die eigene, aus den Fugen geratene Existenz. Verständlich, dass sich Löhr nach diesem Brett immer mehr die Ruhe antut, zumal er "Neun Leben" ausnahmsweise komplett im Alleingang eingespielt hat. Na ja, fast: Das ausladende, hymnische Finale "Jetzt" leistet sich immerhin einen Chor, der einen versöhnlichen Schlusspunkt setzt. Hört da jemand Unheilig trapsen? Falls ja: Bitte die Katzenminze aus den Ohren nehmen und / oder sich an Love A erinnern, die "Jagd und Hund" mit den gleichen Mitteln beendeten. Denn die sind bekanntermaßen genauso ungräflich wie dieses gewohnt souveräne Album.

(Thomas Pilgrim)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Die Königin darf nicht fallen
  • Puppen
  • Innenstadt

Tracklist

  1. Die Königin darf nicht fallen
  2. Puppen
  3. Entstehen und verschwinden
  4. Sensation
  5. Innenstadt
  6. Das Bild
  7. Kriegskindsruh'
  8. Industrie
  9. Jetzt
Gesamtspielzeit: 51:28 min

Im Forum kommentieren

VelvetCell

2024-02-15 08:20:46

Naja, klar: entgegen meiner Aussage weiter oben ist das natürlich auch Punk. Von der Wurzel her und auch von der Attitüde. Klingen halt eher nach Gothic. Am Ende auch egal:

Tolle Band!

Gesmashter Pumpkin

2024-02-14 21:05:00

Passen auch derzeit einfach wieder perfekt. Und zur Punkdiskussion ist zu sagen, dass der - dieser Punk oder wie man das nennt - nicht immer besoffen, chaotisch und musikalisch unausgereift sein muss.

MasterOfDisaster69

2019-10-17 18:43:29

So hoert sich 2019 Punk an?
wer haette das gedacht.

fuer mich ist das Darkwave, ganz OK, der Saenger kann nicht so richtig singen, ist das deshalb Punk? aber halb so schlimm. Ein paar gute Songs drauf.

Danke.

wilson (ausgeloggt)

2019-07-30 20:33:36

ea 80 erhalten für das lebenswerk eine 10/10.... und mehr punk als chaos z geht eingentlich gar nicht..........ach ja, die neue fliehende stürme ist auch ganz okay...7/10 geht objektiv gesehen klar....aber da ich befangen bin gebe ich 7,5/10..... ;-)

slowmo

2019-07-30 10:33:09

Oh cool, davon habe ich ja noch gar nichts mitbekommen. Habe gerade wieder eine EA80 Phase (die mMn auch nochmal deutlich stärker sind). Besonders wenn ich da an Platten wie "2 Takte später" denke (Dr. Murkes gesammeltes Schweigen, Justus, von Jenen... alles Songs die mit zu den besten im deutschsprachigen Raum zählen). Die kann man übrigens am Samstag für lau Live sehen beim Sonic Ballroom Blitzfest in Köln.

Textlich und vom Sound her sind Fliehende Stürme ohne Frage eher Gothic/Dark Wave der alten Schule. ChaosZ hingegen finde ich waren hingegen schon ziemlich punkig.

Für alle diese Bands gilt wohl, dass man sie eben mögen muss. Haben über die Jahre kaum bis gar nicht ihren Stil verändert und leben von ihrer recht treuen und gut vernetzten Fanbase und ihrer mystischen Zurückhaltung in der Öffentlichkeit.

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv

Threads im Forum