Loyle Carner - Not waving, but drowning
AMF / Caroline / UniversalVÖ: 19.04.2019
Mama ist stolz
Viele Rapper interessieren sich für die Mütter anderer Leute, doch nur wenige können mit vergleichbarer Leidenschaft über die eigene erzählen. Benjamin Coyle-Larner, alias Loyle Carner, ist nicht nur einer davon, sondern das personifizierte Ideal des liebenden, dankbaren Sohnes. Immerhin haben er und Mama Jean sich gegenseitig Gedichte geschrieben, die wie in einer herzlichen Umarmung "Not waving, but drowning" umklammern. Dieses zweite Album schlägt damit denselben Weg wie "Yesterday's gone" ein, obwohl dessen Erfolge – eine Mercury-Prize-Nominierung und eine Top-10-Platzierung im Plattentests.de-Redaktionspoll, um nur die wichtigsten zu nennen – sicherlich auch andere Türen geöffnet hätten. Von Gepose oder politischem Protest will Carner noch immer nichts wissen, er rappt weiterhin über sich und seinen eigenen kleinen Kosmos. Mit aufgenommenen Gesprächen im Studio, im Taxi oder an der Imbissbude erzeugt er eine unnachahmlich familiäre Atmosphäre, in einem Interlude hört man ihn und seine Liebsten sogar über einen verwandelten Elfmeter Englands jubeln. Und doch beginnt "Not waving, but drowning" zunächst mit einem Aufbruch.
So eröffnet der immer noch blutjunge Brite seiner Mutter, von Zuhause ausziehen zu wollen, doch es ist keineswegs eine Trennung im Schlechten. Carner möchte schlicht den nächsten Schritt gehen und der von Tom Misch im zweiten Song so gefühlvoll besungene "Angel" beschreibt die Person, mit der dieser vollzogen werden soll. Da legen Songtitel wie "Ottolenghi" und "Carluccio" – benannt nach zwei namhaften Chefköchen und damit ein Verweis auf Carners Passion mit ausgefallener Essenzubereitung – nur falsche Fährten: Auf "Not waving, but drowning" geht es um nichts anderes als menschliche Beziehungen, zur Geliebten, zur Familie, zu Freunden und zu sich selbst. Musikalisch nimmt sich die Platte dabei noch mehr zurück als der Vorgänger, ignoriert weiterhin alle aktuellen Genre-Trends und baut auf Oldschool-Beats mit sehr prägnanten Piano-Motiven. Ausreißer wie das elektrisch geladene "No CD" sucht man vergebens, selbst die druckvolleren, in Richtung Boom Bap gehenden Stücke wie "Ice water", "Sail away" oder das famose "You don't know" fügen sich der tiefenentspannten Wärme. Nicht einmal Sampha, der "Desoleil" nicht nur die Stimme leiht, sondern auch seinen typischen gravitationslosen Soul mitbringt, schafft es, die Geschlossenheit aufzubrechen.
Nicht, dass die hier anwesenden Gäste das überhaupt versuchen würden – auch Jorja Smith bekräftigt "Loose ends" eher, als dass sie es an sich reißt. Gemeinsam leiten sie und Carner in ein Schlussdrittel, dass in Sachen emotionaler Zugkraft noch eine Schippe drauflegt. An vorderster Front steht da "Krispy", eine Reflexion über die rissige Beziehung mit dem langjährigen Freund und Kollaborateur Rebel Kleff: "So now what / I can't wait another hour boss / Give a fuck about the money or the E-track / I just want my G back." Eigentlich als Aussöhnung gedacht sollte Kleff hier selbst einen Part beisteuern, doch weil er nicht auftauchte, füllt ein einsames Trompeten-Solo seinen Platz – ein großartiger Moment bittersüßer Schönheit. In "Looking back" denkt Carner über seine Väter und deren Einfluss auf seine Identität nach, der eine leiblich, aber abwesend, der andere fürsorglich, aber früh verstorben. Doch den Höhepunkt der Intimität bildet natürlich "Dear Ben", jene Liebeserklärung Jean Coyle-Larners an ihren "beautiful boy", die jeden noch so harten Rap-Fan tränenüberströmt in die Arme seiner eigenen Mutter treiben dürfte. "Yesterday's gone" mag bei gleicher Ehrlichkeit musikalisch abwechslungsreicher und beeindruckender gewesen sein, doch Carner bleibt eine in ihrer totalen Offenherzigkeit einzigartige Antithese zum modernen HipHop-Geschäft.
Highlights & Tracklist
Highlights
- You don't know (feat. Kiko Bun & Rebel Kleff)
- Krispy
- Looking back
- Dear Ben (feat. Jean Coyle-Larner)
Tracklist
- Dear Jean
- Angel (feat. Tom Misch)
- Ice water
- Ottolenghi (feat. Jordan Rakei)
- You don't know (feat. Kiko Bun & Rebel Kleff)
- Still
- It's coming home?
- Desoleil (Brilliant corners) (feat. Sampha)
- Loose ends (feat. Jorja Smith)
- Not waving, but drowning (feat. Stevie Smith)
- Krispy
- Sail away
- Looking back
- Carluccio
- Dear Ben (feat. Jean Coyle-Larner)
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Kai
2020-07-02 14:03:52
Läuft bei mir seit einiger Zeit regelmäßiger.
Sehr angenehm.
diggo
2019-05-03 06:56:33
Nach Little Simz und Dave das dritte richtig starke 2019er Rap-Album aus UK. So darf es gerne weitergehen. Für mich wenig schwächer als das beeindruckende Debüt, trotzdem noch 8/10.
maxlivno
2019-05-02 21:21:47
Schön geschriebene Rezension. Ich selber vergebe eine 8/10. Sein Debüt hab ich irgendwo bei 9-9,5/10. Ist im bisher schwachen Jahr eines meiner Highlights
Armin
2019-05-02 20:20:26- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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