HVOB - Rocco
PIAS / Rough TradeVÖ: 15.03.2019
Anna + the machine
Nicht erst seit Filmen wie "Her" oder "Ex Machina" zeigt sich die Kunst fasziniert von Konzepten des Transhumanismus. Solcherlei Medienerzeugnisse fallen zwar nicht immer ins Genre des Horrors, gerade bei künstlicher Intelligenz lässt sich ein automatisch einsetzendes Unbehagen allerdings nicht leugnen: Wie kann etwas, das kein Mensch ist, menschliche Emotionen oder ein Bewusstsein entwickeln? HVOB nähern sich dem Thema zwar nicht inhaltlich an, doch ihre Musik besitzt dazu passend eine androidenartige Qualität. Wenn nach der Hälfte der achtminütigen Stahlwalze "Eraser" Anna Müllers Gesang dem technoiden Pumpen entgegentritt und immer mehr Raum bekommt, bis die Musik schließlich ganz verstummt, bringt das gut auf den Punkt, wo der Reiz hinter dem Wiener Produzentenduo steckt. Wie schon auf ihren ersten drei Alben feiern Müller und ihr Kompagnon Paul Wallner auf dem Mammutwerk "Rocco" den Kontrast zwischen kühler, distanzierter Elektronik und einer klaren und warmen Stimme. HVOB bringen zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört, doch zu ihrer Verbindung von Mensch und Maschine ist "unbehaglich" so ziemlich das letzte Wort, was einem in den Sinn kommt.
Abgesehen davon, dass es sich um ein 80-minütiges Doppelalbum handelt, lässt sich bei "Rocco" anders als bei seinen Vorgängern keine besondere Geschichte erzählen – keine Kunst-Installationen wie hinter "Trialog", keine Kollaboration mit unerwarteten Gast-Musikern wie Winston Marshall von Mumford & Sons auf der letzten Platte "Silk". Doch weder brauchen HVOB tatsächliche Bilder, um ein greifbares Kopfkino abzuspielen, noch braucht Müllers Stimme einen männlichen Konterpart oder die Musik ein im Folk verwurzeltes Gegengewicht. Organisch klingen sie auch so genug: Wer die Band noch nicht kennt, kann sie sich ein bisschen wie eine Deep-House-Version von Daughter vorstellen. Der wunderschöne Opener "2nd world" fällt da noch ein bisschen aus der Reihe, weil er die elektronische Seite nur andeutet und Müllers melancholisch gehauchter Gesang auf verschachtelten Piano-Motiven tänzelt, bis ein Ausbruch mit echten Drums einen unerwartet harschen Schlusspunkt setzt. Erst danach kosten HVOB die neue Überlänge so richtig aus, überreizen ihre ausladenden Spannungsbögen mit Pausen und Wiederholungen noch mehr und graben weitere Tiefenschichten in ihre Klanglandschaften zwischen Betonwüste und synthetisch imitiertem Regenwald.
Um den Elefanten aus dem Weg zu schaffen, der bei jedem Doppelalbum von Bands, die normalerweise keine Doppelalben machen, im Raum sitzt: Ja, "Rocco" ist zu lang. Das hat nichts mit der einzelnen Songqualität zu tun, aber stilistisch sind HVOB einfach etwas zu eingeschränkt, um fast anderthalb Stunden ohne Redundanzen zu füllen. Trotzdem ist ihnen ohne Zweifel wieder ein starkes Werk gelungen, weil jeder der 13 Tracks für sich genommen ein kleines bis größeres Meisterstück darstellt. Die Dramaturgie – bis auf "Go?" dauern alle Stücke länger als fünf Minuten – gelingt immer hervorragend, dazu beherrschen Müller und Wallner die zerbrechliche Intimität genauso gut wie die Großraumdisko und allerlei virtuose Spielereien. Manchmal auch alles in einem Song wie im grandiosen "Butter", das über seine acht Minuten zwischen Klavier-Drama und industrieller Abrasion changiert. Ein weiteres, weniger auffälliges Highlight ist "A list": Das Arrangement erinnert an den Opener, Müller klingt so nah, als würde sie neben einem sitzen, und am Ende werden zum ersten und letzten Mal auf diesem Album die Bläser ausgepackt. Ein kleines Überraschungsmoment mit großer Wirkung. Diese Androiden werden auch immer gerissener.
Highlights & Tracklist
Highlights
- 2nd world
- Eraser
- Butter
- A list
Tracklist
- CD 1
- 2nd world
- Eraser
- Bloom
- Butter
- Sync
- A list
- CD 2
- Panama
- Zinc
- Alaska
- Shinichi
- Kante
- Go?
- Tykwer
Im Forum kommentieren
Kai
2023-03-28 16:47:41
Mir hat es sehr gut gefallen.
Hör ich mir jetzt sicher öfter an.
peter73
2023-03-28 14:42:25
meine # 2 des elektropolls und hier als auch im forum bis heute leider völlig untergegangen
klar gibts vermutlich dutzende alben, die besser oder origineller sind - aber da 2019 gerade eine schwierige phase in meinem leben war, war diese platte sowas wie ein anker.
live sind anna & co gleichzeitig charismatisch als auch mitreißend, mittlerweile 6x bestätigt :)
8hor0
2020-10-08 20:02:43
schönes freiluft-konzert-vid!
https://youtu.be/XxSmY7VNaCk
peter73
2020-10-08 08:25:22
"rocco" war mein konzert (eigentlich waren es 2) & album des jahres 2019!
eraser, butter, panama, undundund... *love*
musie
2019-04-12 21:35:45
genau! zürich war auch grossartig
Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.
Referenzen