Die Wände - Im Flausch

Morr / Späti Palace
VÖ: 08.03.2019
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Ach wie gut

Im Jahre 2005, als Olli Schulz & Der Hund Marie "Das beige Album" veröffentlichten, las der frischgebackene Abiturient Pascal Bremmer in den Weiten des Internets eine heute nicht mehr aufzufindende Rezension zu jener Platte. In dieser wurde Schulz attestiert, dass nur er es vermöge, ein derart komisches Wort wie "Geheimversteck "so schön zu singen. Stimmt, fand das Bremmerlein, seltsames Wort, aber super präsentiert. Fast anderthalb Jahrzehnte später ist seine Begeisterung für lyrische Skurrilitäten nicht minder groß. Wenn dann drei Jungs aus Berlin – Die Wände – ein Album – "Im Flausch" – herausbringen, dessen erste Single den klangvollen Titel "Formgedächtnispolymer" trägt, quietscht er erfreut, übertrifft das Memory-Schaum-Synonym Schulzes heimliches Refugium in dessen eigentlichen Unklang doch um Längen. Und übrigens: Nackenstützkissen, eh geil. Und auch noch: die Platte, noch geiler.

Die Wände hießen bis vor einer Weile noch Girlie und sangen auf Englisch. Nach der Gründung 2013 gab es eine EP und eine Split-12" gemeinsam mit der Band Pigeon, der Musikexpress zeichnete sie 2016 als einen der besten Newcomer des Landes aus, die TAZ sah in ihrem Sound die Weiterführung von 80er-Noise-Größen wie Sonic Youth. Davon ist nicht mehr viel übrig nach der Umbenennung, die offensichtlich auch eine Neuorientierung war. Die Wände nehmen sich Zeit, vermeiden Krach, behalten jederzeit die Kontrolle, auch wenn ein Ausbruch naht. Oft dehnen sie ihre Tracks auf ein Maximum aus, um eine möglichst große Liegefläche für ihre Hörer auszubreiten. Schon der Opener "Im Park und im Café" wagt es, sich ganz feinsinnig zu entfalten, leitet mit einer melodiewiederholenden Gitarre ein und addiert nach und nach Percussion, Bass und Gesang, als ginge man hier nach striktem Kochrezept vor. Aber wenn die herkömmlichen Hitmaschinen ein Schnitzel zubereiteten, dann ist das hier halt das Cordon Bleu. Wie sich der Song nach hinten raus selbst überfällt und der Gesang ins Gekeife abrutscht, ist dabei wahnsinnig mitreißend. Ähnlich geschieht dies in "Projektor", das zur Songhälfte seinen Gipfel erreicht, wenn eine schallende Trompete ein Gewitter einleitet, das sich gewaschen hat. Genauso beeindruckend aber ist, wie der Song wieder zur Ruhe findet, während ein Chor den Gesang unterstützt und die Gitarre auf Johnny Marrs Spuren wandelt.

"Halten Sie Ihre Pläne geheim" befindet sich im Koksrausch: Es ist der kürzeste, aber auch der rasanteste Track der Platte, der schon im Up-Tempo herannaht und sich dennoch immer weiter steigert, bis in den letzten 20 Sekunden der Verzerrer angeworfen wird und die Saiten völlig kollabieren. Ähnlich kraftvoll toben sie zur Mitte von "Im Automaten", das aus der Stille noch mal wiederkommt und dann erst richtig loslegt. Auch "Schwitzen" hat so eine eingefasste Ruhepause, die das Tempo zwischenzeitlich minimiert, um dann neu Anlauf zu nehmen und einen wirklich grandiosen Schlussspurt hinzulegen, der dann aber wiederum abbricht und noch mal eins drauflegt. Auch das abschließende "Formgedächtnispolymer" ändert in seinem Verlauf zigmal Tempo und Stil: Es marschiert stramm aber groovy los, als die Gitarre dann ein bisschen zu plärren beginnt, wird sie sogleich wieder eingefangen, doch später lässt das Trio sie noch ungezügelter wieder frei, bevor ein weiterer Break den nächsten Akt der Geschichte einläutet. Der Text dreht sich um Kontinuität, ums Behütetsein, um ein Du. Es ist ein Lobgesang auf die Beständigkeit, aber auch aufs Verliebtsein, auf das Dazwischen inmitten von Zwei. Ein Damenchor eilt zur Unterstützung und die Platte leitet im sanften Saitengeklimper aus. Großartig!

"Im Flausch" ist eine hochdisziplinierte Post-Punk-Produktion, die es akzenturiert zwar auch gern einmal krachen lässt, sich jeden Ausbruch aber erst malocherhaft erarbeitet. Ästhetik ist alles für die drei Kunststudenten, die auf Ihren Pressefotos aussehen wie eine Truppe Trapper aus dem Yung-Hurn-Umfeld: Durchsichtige Vollrandbrille, Schnauzer, knöchelfrei. Alles ist neurotisch auf "Im Flausch", trotzdem ist es genauso kuschelig, wie sein Titel es vermuten lässt, denn während die Band sich an ihren eigenen Regularien aufreibt, kann der Hörer relaxen und sich mit dem Sound der Platte treiben lassen. Am besten dafür eignet sich wohl "11:55 Uhr", das sich in über siebeneinhalb Minuten durch Täler und Tumulte schlawenzelt und am Ende lyrisch zusammenfasst, was man da schon längst kapiert hat: "Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß'."

(Pascal Bremmer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Halten Sie ihre Pläne geheim
  • 11:55 Uhr
  • Schwitzen
  • Formgedächtnispolymer

Tracklist

  1. Im Park und im Café
  2. Projektor
  3. Halten Sie Ihre Pläne geheim
  4. 11:55 Uhr
  5. Im Automaten
  6. Schwitzen
  7. Alles ist klasse
  8. Formgedächtnispolymer
Gesamtspielzeit: 38:40 min

Im Forum kommentieren

Pascal

2019-03-13 20:51:24

Ich fände eine Instrumentalversion auch nicht verkehrt, obwohl mich der Gesang nicht stört :)

MartinS

2019-03-13 18:25:27

Ich fänds sogar ziemlich super, wenn da nicht dieser "Gesang" wäre. Dass die deutschsprachigen Post-Punk-Bands auch immer klingen wollen wie abgehalfterte Intellektuelle mit zu viel Betablockern drin...

Whirlpool

2019-03-04 21:13:47

@Kalter Hund

Seit heute kann man das Album der Band anscheinend auf Bandcamp streamen

https://spaetipalace.bandcamp.com/album/sp019-die-w-nde-im-flausch

Ich finds auch ziemlich gut!

Pascal

2019-03-02 23:19:57

@Offenes Geheimnis: Das hatte ich auch gefunden, aber ich meine, dass es eben das nicht war. Es kann auch sein, dass ich das irgendwo im Print gelesen habe. So oder so, völlig irrelevant eigentlich :D

@Kalter Hund: Ich glaube noch nirgends, Freitag dann. Ansonsten hat Vollmilchbart unrecht. Er spielt ja recht offensichtlich auf Die Nerven an, aber das ist es genau nicht. Die Nerven sind viel wilder, während Die Wände immer aus der Deckung kommen. Ich finds geil, liest man ja.

Kalter Hund

2019-03-01 09:51:18

Wo kann man schon die ganze Platte hören? Würde mich gern selbst mal davon überzeugen, ob das Album austauschbar geworden ist. Genialer Bandname auf jeden Fall. Girlie fand ich auch schon super.

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