Bruce Springsteen - Springsteen on Broadway

Columbia / Sony
VÖ: 14.12.2018
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

For you. I came for you.

Ein Album wie "Springsteen on Broadway" gab es vermutlich noch nie. Es ist so viel mehr als der Konzertabend eines erfolgreichen Künstlers an einer der ruhmreichsten Stätten des Show-Business. Was sich von Oktober 2017 bis Dezember 2018 im New Yorker Walter Kerr Theatre Abend für Abend abspielte, lässt sich nur ungenügend kategorisieren. Konzert, gestalterische Lesung, szenische Biographie, Stand-up, Schauspiel, Theater – all das geht Hand in Hand bei dieser dargebotenen Unterhaltungsform. "Bruce Springsteen erzählt aus seinem Leben" greift als Verknappung zu kurz, weil selbst Springsteens persönlichste Geschichten in Songs seit jeher als universelle Angebote zur Selbstreflexion und Selbstvergewisserung für den Hörer dienen.

Als der inzwischen 69-Jährige 2016 seine Biographie "Born to run" veröffentlichte, sahen wohl die wenigsten in dem vielfach gelobten und alltagspoetischen Werk eine Vorlage für ein Format wie "Springsteen on Broadway". Mit schwarzer Jeans und dunklem Shirt bekleidet, steht der Boss auf dem Holzboden der Bühne. So reduziert sein Erscheinungsbild, so spartanisch auch das Setting insgesamt. Oft scheint nur ein Lichtspot auf den Protagonisten im ansonsten abgedunkelten Theater, damit kein Schnickschnack die Essenz vernebelt. In gut zweieinhalb Stunden spielt Springsteen 16 Songs. Er braucht Raum fürs Storytelling. Schon "Growin' up" dauert zwölf Minuten, weil er einstreut, wie Elvis Presley ihn triggerte, wie er seine erste Gitarre bekam und dass er ohne jedweden persönlichen Erfahrungsschatz über das Arbeiterleben schrieb. "I made it all up. That's how good I am."

Immer wieder bringt Springsteen das Publikum auch zum Lachen. Er sei "Mr. Born to run" und "Mr. Thunder fucking road", habe vom Ausbrechen aus dem Drecksloch in Jersey geschrieben – und nun wohne er doch nur zehn Minuten von seinem Heimatort entfernt. "But 'Mr. Born to come back'? Who have bought that shit?!" Im Entertainer steckt auch ein Komiker, noch mehr aber ein vorzüglicher Erzähler. Selbst wenn man überhaupt keinen Schimmer hat, wie Freehold damals aussah: Springsteen malt die Umgebung, malt Düfte und Persönlichkeiten mit Worten, ehe er "My hometown" am Klavier nachschiebt. Wir sitzen als Hörer mit dem kleinen Bruce am Frühstückstisch, wo er zusätzlichen Zucker in die pappsüßen Sugar Pops mischt und lenken das Steuer des Autos, das er mit 21 Lenzen ohne jedwede Fahrerfahrung 2000 Meilen durch die Weiten der Staaten manövrieren musste – um dann "The promised land" zu lauschen.

Ein Blick auf die Tracklist verrät Springsteens anachronistische Herangehensweise. Sein Leben bestimmt die Struktur dieser Abende – nicht die Hierarchie der Diskographie. Wir lernen, wie ihn Heimat, Eltern, (Band-)Familie, das Zusammenspiel mit den Fans, Begegnungen und Musik prägten. Mit seiner Frau Patti Scialfa singt er die Stücke "Tougher than the rest" und "Brilliant disguise" und im Prolog zu "Tenth Avenue freeze-out" spricht er einmal mehr die längst mit Mythen übersäte Verbindung zwischen ihm und dem 2011 verstorbenen Saxophonisten der E-Street-Band, Clarence "Big Man" Clemons, an. "When one and one equals three." "Springsteen on Broadway" liefert sehr viele rührende und rührige Momente. Vor "My father's house" instruiert Springsteen das Wesen seines depressiven Vaters. Im nachfolgenden "The wish" geht es um seine unerschütterliche, arbeitsame und lebensfrohe Mutter, die zwar inzwischen an Alzheimer erkrankt ist, sich mit 93 Jahren und ihrem italienischen Temperament aber die Freude am Tanzen bewahrt hat. "We'll find us a little Rock'n'Roll bar / And we'll go out and dance."

Auch wenn "Springsteen on Broadway" auf Springsteens Biographie basiert, eignet sich die Platte nicht als Einstieg in sein Schaffen oder als Best-of-Zusammenstellung. Wer sich aber gerne mit dem Boss und seiner Musik beschäftigt, bekommt mit "Springsteen on Broadway" ein großartiges Geschenk. Das nackte Audio-Dokument hat nur einen kleinen Haken: Es gibt nichts zu sehen. Das von Thom Zimny produzierte Netflix-Special entführt einen ins emotionale Zentrum des Walter Kerr Theatres. Wenn Springsteen sich an verstorbene Weggefährten erinnert, verschmitzt lächelt, in Gedanken versinkt, die Bühne vereinnahmt oder sich vor "Long time comin'" kurz die Tränen aus den Augen wischen muss in Erinnerung an die Begegnung mit seinem Vater vor der Geburt seines ersten Sohnes, dann reichen die Ohren zum Erleben nicht aus. "Springsteen on Broadway" beweist einmal mehr, wie sehr sich der Boss live dem Publikum hingibt. Springsteen erzählt nicht nur Geschichten, er erlebt sie. Abend für Abend, in 236 Shows am Broadway. "I hope that I've been a good traveling companion", sagt Springsteen gegen Ende. Zustimmung und Applaus wären an dieser Stelle eine große Untertreibung.

(Stephan Müller)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • My hometown
  • The wish
  • Tenth Avenue freeze-out
  • Long time comin'
  • Born to run

Tracklist

  • CD 1
    1. Growin' up (Introduction)
    2. Growin' up
    3. My hometown (Introduction)
    4. My hometown
    5. My father's house (Introduction)
    6. My father's house
    7. The wish (Introduction)
    8. The wish
    9. Thunder road (Introduction)
    10. Thunder road
    11. The promised land (Introduction)
    12. The promised land
  • CD 2
    1. Born in the U.S.A. (Introduction)
    2. Born in the U.S.A.
    3. Tenth Avenue freeze-out (Introduction)
    4. Tenth Avenue freeze-out
    5. Tougher than the rest ((Introduction)
    6. Tougher than the rest
    7. Brilliant disguise (Introduction)
    8. Brilliant disguise
    9. Long time comin' (Introduction)
    10. Long time comin'
    11. The ghost of Tom Joad (Introduction)
    12. The ghost of Tom Joad
    13. The rising
    14. Dancing in the dark (Introduction)
    15. Dancing in the dark
    16. Land of hope and dreams
    17. Born to run (Introduction)
    18. Born to run
Gesamtspielzeit: 147:23 min

Im Forum kommentieren

Loketrourak

2019-01-11 09:46:37

Die Netflixshow ist natürlich Bombe, das Album funktioniert deutlich besser, wenn man den Auftritt gesehen hat.

Stephan

2019-01-11 08:03:46

Oh, eigentlich war das gar nicht gemein gemeint. Eher als Ausdruck von Hingabe.

musie

2019-01-11 07:26:54

Oh, das ist aber ein gemeiner Titel der Rezension... For You war grandios als Abschluss vor ein paar Jahren im Olympiastadion in München. Dieses Album hier funktioniert als Tondokument nur bedingt, mich stören die akustischen Unterschiede, wenn er sich in den Geschichten vom Mikrofon entfernt.

Armin

2019-01-10 20:43:45- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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