Muff Potter - Colorado

Grand Hotel van Cleef / Indigo
VÖ: 09.11.2018
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Endlich wieder Fahrtwind

Was blieb, war eine fette Gänsehaut, ein "100 Kilo Herz" und ein leicht tränenverschmierter Blick auf ein Plakat, das von ein paar Feuerzeugen angestraht wurde: "Nie wieder Fahrtwind?" steht darauf geschrieben, in Anspielung auf das Lieblingsalbum "Bordsteinkantengeschichten". Es ist der 30. November 2009. Muff Potter geben sich ein letztes Mal die Ehre im Wiesbadener Schlachthof. Die Nachricht ihrer Auflösung schmeckte noch sauer, und ein letztes Mal pressten die Münsterländer Punkrocker die geballte Restenergie aus all den liebgewonnenen Songs, bevor die Band für immer verschwinden wollte. Ob auf der Bühne oder im Publikum – man lag sich für 90 Minuten gefühlt nur in den Armen. Das Bier floss in Strömen, und Nagel intoniere gemeinsam mit Chuck Ragan dessen "The boat" – auf dass es gut über die kommenden Wellen des Lebens tragen möge. Wo immer der Fahrtwind auch hinwehen würde. Zurück blieb die ratlose Anhängerschaft, die von Muff Potters Musik zehrte, von dem räudigen und zugleich umarmenden Punk, vor allem aber von Nagels Texten, seiner besonderen Art und Weise, die Welt in Worte zu packen. Aus, vorbei.

Zumindest für eine Dekade. Ausgerechnet eine Lesung Nagels, der sein Talent nach dem Abschied vor allem in die Arbeit als Schriftsteller steckte, brachte nun die ungeahnte Wendung: Ende Februar 2018 standen nach der Lesung zu "Der Abfall der Herzen" im Berliner Festsaal Kreuzberg plötzlich drei Viertel der Band gemeinsam auf der Bühne, und man spielte einige Songs zur nachgerade ekstatischen Freude der anwesenden Gäste. Was als einmaliges Bonbon gedacht war, entwickelte offenbar eine Eigendynamik: "Unser Schlagzeuger hat sein Schlagzeug wiedergefunden. So führte eins zum anderen", kommentierte man trocken. Ein Überraschungs-Auftritt bei "Jamel rockt den Förster" folgte, und die Sensation nahm Formen an: Muff Potter sind tatsächlich wieder da!

Für sieben Konzerte. Und mit "Colorado", dieser Kompilation aus B-Seiten, EP-only-Tracks, Demos, Coverversionen, Alternativ-Versionen und unveröffentlichtem Material, die ihre Revue bei den damaligen Abschiedssongs "Alles war schön und nichts tat weh" sowie dem EA-80-Stück "Auf Wiedersehen" beginnt. Fast egal, was da tönt – die meisten alten Weggefährten springen vor Freude im Fünfeck, denn der "Früher war alles gut"-Haltung kann auch der alternde Punkrocker nicht vollends entfliehen. Die Tickets zur Comeback-Tour gingen schneller über die Ladentheken als Gin-Tonic in der Happy Hour. Doch auch kritische Töne haften dieser Reunion an. Wenige Puristen, Fans der ersten Stunde, wie immer man sie nennen mag, hätten Muff Potter lieber in der "Hach, damals ...!"-Schatulle gelassen. Legitim. Jene brauchen auch "Colorado" wohl nicht, dabei macht diese leicht krude Zusammenstellung, die mit "Typhus" und "Glitzer-KZ" sogar allerersten Songs der Band von "Bambule" huldigt, einem Tape mit 1.000er-Auflage aus dem Jahr 1994, tatsächlich Spaß. Welcher natürlich auch von der Vorfreude auf die kommende Tour geprägt sein kann, klar.

Doch auch nüchtern betrachtet deckt die Auswahl die gesamte Bandkarriere ab und hält neben hübschen The-Undertones- und Chuck-Ragan-Coversongs noch ein paar andere Perlen parat: Lieblinge wie "Los, stop, schade" in der charmanten "Kreisklasse-Version" und "23 Gläser später" als Akustik-Remake des markanten "22 Gleise später". Kleine Boshaftigkeiten wie "Auf meiner Fußmatte (steht Welcome)" oder rare, rostige Kehrbesen wie "Tränen Pisse Blut" und "Noch ein Lied" von der 2001er-"The Potthoff EP". "Sgt. Mangelkrämer" von der "Placebo domingo"-Single, aber auch kleine Hits wie "Bitter lemon" von der "Fotoautomat"-Single und das unveröffentlichte, sehr tolle "Schwer sein", wo Gitarrist Dennis Schneider erneut unter Beweis stellen darf, dass er ein tadelloser Sänger ist. Nur für den Fall, dass Muff Potter 2019 eine neue Platte aufnehmen wollen. Das wäre tatsächlich dann Sell out, ja gar unverschämt, oder etwa nicht? Anfang 2019 gibt es erst mal Konzerte. Und Bier. Jawoll. Endlich wieder Fahrtwind!

(Eric Meyer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Auf meiner Fußmatte (steht Welcome)
  • Schwer sein
  • Bitter lemon
  • Los, stop, schade (Kreisklasse Version)
  • Tränen Pisse Blut
  • Typhus

Tracklist

  1. Alles war schön und nichts tat weh (Sonnenallee Version)
  2. Auf Wiedersehen
  3. 23 Gläser später
  4. Auf meiner Fußmatte (steht Welcome)
  5. Schwer sein
  6. The boat
  7. Bitter lemon
  8. Ein Requiem für die gute Laune
  9. Jumping someone else's train
  10. Los, stop, schade (Kreisklasse Version)
  11. Weg mit dem
  12. Schnellbootveteranen für die Wahrheit
  13. Gestern war auch schon ein Tag
  14. Wir können auch anders
  15. Lost in translation
  16. Don't try suicide
  17. Sgt. Mangelkrämer
  18. Hotfilter
  19. Teenage kicks
  20. Tränen Pisse Blut
  21. Noch ein Lied
  22. Peace or annihilation
  23. Pustekuchen
  24. Typhus
  25. Glitzer-KZ (Demo Version)
Gesamtspielzeit: 77:23 min

Im Forum kommentieren

Tacktacktack

2018-12-28 19:30:50

Bei solchen Alben braucht es keine Wertung. Gab schon Gründe, warum die Titel nicht regulär veröffentlicht worden sind. Trotzdem nette Rezension. Ist halt schade, dass beide Frontmänner mit ihren Ideen gescheitert sind und jetzt wieder unter alter Fahne losziehen. Grad weil sie zum Zeitpunkt der Auflösung noch recht kreativ waren.

Booker

2018-12-20 21:33:51

"Für sieben Konzerte". Genau. Und die unzähligen Festivals, die sie alle mitnehmen. Hotel Schneider brauch' Geld.

Armin

2018-12-20 20:46:19- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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