Ljungblut - Villa Carlotta 5959

Karisma / Soulfood
VÖ: 16.11.2018
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Mainstream der Missmutigkeit

Tinnitus, Migräne, Herzbeutelentzündung. Überraschung: Kim Ljungs fünftes Album entstand nicht etwa in der musealen Sommerresidenz am Comer See, die "Villa Carlotta 5959" den Titel gibt, sondern im Krankenhaus. Na gut, das war nun ein wenig geflunkert, denn eingespielt hat der hauptberufliche Bassist von Zeromancer und Seigmen den Longplayer samt Band in einem handelsüblichen Studio. Mental nahm das gute Stück jedoch im Hospital von Ljungs Heimat Tønsberg seinen Anfang, wo er sich wegen seiner Beschwerden regelmäßig stationär behandeln lässt. Und noch eine Relativierung: An Herzbeutelentzündung leidet der Norweger zum Glück nicht – anders als einst der polnisch-französische Komponist Frédéric Chopin, dessen inzwischen als Reliquie in einer Kirche aufbewahrte Pumpe im Stück "Til Warszawa" zu Ehren kommt.

Alle Songs sind dabei nicht nur in der Muttersprache des Skandinaviers gesungen, sondern verströmen auch eine schwere bis düstere Atmosphäre. Dass gemäß Vorgängern wie "Over skyene skinner alltid solen" über den Wolken immer die Sonne scheint oder wie auf "Ikke alle netter er like sorte" nicht alle Nächte schwarz sind, hilft nun einmal nicht immer. Auch nicht der Meistermannschaft des AC Turin, die 1949 bei einem Flugzeugunglück umkam – betrauert im gravitätischen Piano-Klagelied "Superga". Überhaupt setzt "Villa Carlotta 5959" statt auf Zeromancers rabiaten Elektro-Metal eher auf Seigmens weitläufige Dramatik aus arty Wave-Rock und Prog: Produziert hat Alex Møklebust, der zusammen mit Ljung in beiden Gruppen seit Mitte der Neunziger vornehmlich in der Heimat Erfolge feiert. Was heißt "Never change a winning team" eigentlich auf Norwegisch?

Ein Prinzip, von dem auch Ljungs eigene Band nicht abweicht. Von Zeromancer scheinen hier maximal Elemente des defensiven "Zzyzx" durch, angereichert mit der wuchtigen Synthetik des Openers "Hasselblad", der auch von Depeche Mode oder Archive stammen könnte, hätten diese jemals auf dem Mond zurückgelassene Mittelformatkameras thematisiert. Eher bedrückt entblättert sich "Oktober" zu feinsinnigen Leads und macht den Hamburger Kiez unsicher – hinreißender wurde der Mainstream der Missmutigkeit seit Klimt 1918s "Dopoguerra" nicht mehr illustriert. Noch treffender verweist höchstens das perlende, raumgreifende "235" auf Marco Soellners italienische Stadion-Post-Punks: Eine Wohltat, wie sich Art- und Prog-Rock das inzwischen nahezu plattgewalzte Adjektiv "episch" zumindest zeitweilig zurückerobern.

Und auch wenn es Ljung von St. Pauli auf den Père Lachaise, an die Absturzstelle der einstigen Fußballhelden und sogar kurz in den Himmel verschlägt, bleibt er auf "Villa Carlotta 5959" ganz bei sich. Betrachtet fremde Dämonen lediglich, um seine eigenen auszutreiben, was ihm in ausladenderen Stücken wie "Diamant" und bei der planvollen Geräuschigkeit von "Ohnesorg" am besten gelingt. Nicht, dass danach etwas gelöst oder die Beklemmungen gar verschwunden wären – doch wenigstens bietet das fragile "Aldri helt stille" einen Moment Ruhe vor dem omnipräsenten Ohrensausen, das dieses Album in oft betörende Formen gießt. Und fasst sich "Min krig" zum Schluss ganz kurz, hat Ljung vielleicht nicht gewonnen, aber immerhin gekämpft. Eine schale Schlusspointe? Mag sein. Aber allemal besser als Tinnitus, Migräne und Herzbeutelentzündung.

(Thomas Pilgrim)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Hasselblad
  • 235
  • Diamant
  • Ohnesorg

Tracklist

  1. Hasselblad
  2. Oktober
  3. Til Warszawa
  4. 235
  5. Superga
  6. Diamant
  7. Himmelen som vet
  8. Ohnesorg
  9. Aldri helt stille
  10. Min krig
Gesamtspielzeit: 43:02 min

Im Forum kommentieren

MasterOfDisaster69

2018-11-30 12:51:16

da kann man sich anschließen, den beiden o.g. Punkten auch.

Die Platte werde ich mir mal vornehmen, beim Hören der Highlights (ins."235") fallen aber natürlich sofort The Cure ein, gehören eigentlich auch unter Referenzen genannt. Bei den Referenzen stehen sowieso etwas komische Sachen: Bitte haben was Muse oder gar 30Seconds To Mars mit dieser Musik zu tun?

Pivo

2018-11-23 09:24:25

Wieder einmal muss ich ein großes "Dankeschön" an PT loswerden. Ich habe in drei Songs reingehört und dann gleich die CD bestellt. Für meinen Geschmack könnte das Album mal wieder ein Volltreffer mit Nachhaltigkeit werden.
Ohne PT wäre ich im Leben nicht auf die Idee gekommen, diese CD zu kaufen geschweige denn irgendwo im Netz darauf zu stoßen.
Woher kommen bei Euch immer wieder solche Perlen auf die Liste?
Seid ich bei Euch regelmäßig lese hat sich mein Erleben von Musik deutlich verändert (für meinen Geschmack verbessert). Ansonsten wäre ich wahrscheinlich heute bei Coldplay und Konsorten hängengeblieben. Grade wenn man nicht so viel Zeit hat um große Recherchen im Web zu machen seit ihr für mich ein perfekter Filter der mich immer wieder und in schöner Regelmäßigkeit tolle neue Bands entdecken lässt.
Einfach bitte immer weiter so.....

Zwei Anregungen möchte ich aber trotzdem loswerden:

1. Es ist zwar immer auch mal wieder lustig einen Verriss zu lesen, dennoch könntet ihr auf Kritiken zu Mark Forster, Helene Fischer und Konsorten gerne verzichten. Es ist manchmal schade, dass solche Alben einen der wertvollen 20 Plätze wegnehmen.

2. Wie wäre es mit einer "Klassiker-Zusatzrubik". Dort könntet ihr pro Woche ein oder zwei Albem aus der Zeit vor der PT-Gründung rezessieren. Es wäre sicher für einige interessant wie Ihr auf dem Stand von 2018/2019 Alben bewerten würdet die schon 20 oder 30 Jahre auf dem Buckel haben.

Armin

2018-11-22 21:38:37- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Threads im Forum