Sudden Infant - Buddhist nihilism
Harbinger Sound / CargoVÖ: 05.10.2018
Zünftig unvernünftig
Was haben Valéry Giscard d'Estaing, Martina Navratilova, PJ Harvey und Salma Hayek gemeinsam? Eine heimliche Vorliebe für vergröberten Post-Punk mit zerstückeltem Funk-Flair? Vielleicht weiß Joke Lanz ja Näheres – schließlich ist es der in Berlin lebende Schweizer mit seiner schon Ende der Achtziger gegründeten Band Sudden Infant, der diese und zahlreiche andere Persönlichkeiten in verschiedensten Stimmlagen zwischen die Tempowechsel des Komplexjazz-Brockens "George Clooney" geschmuggelt hat. Liest sich bescheuert? Genauso klingt es auch. Dabei jedoch musikalisch extrem gekonnt und sogar besser als Die Ärzte 1993 im HipHop-Part von "Schopenhauer", sodass man dem Trio anerkennend auf die Schulter und sich selbst vor Lachen auf die Schenkel klopfen muss, nachdem es einem schon mehrfach im Halse steckengeblieben ist.
Ein Großteil von "Buddhist nihilism" ist zu diesem Zeitpunkt schon vorbei, und den Hörer kann längst nichts mehr erschüttern. Keine atonal schreddernden Stahlsaiten, die sich mit dicken Pumpgun-Drums herumschlagen, kein gefühltes Pöbel-Deathmatch Sleaford Mods vs. The Fall, kein stimmliches Method-Acting, als würde sich Hermes Phettberg gerade Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" auf den Allerwertesten tätowieren lassen. Und es ist genug für alle da – eine ganze irrsinnige Dreiviertelstunde lang. Auch wenn sich der Opener "Rationality" lediglich eineinhalb Minuten abzweigt, um mit drahtiger Rhythmusgruppe und gewagten Breaks gegen die Diktatur der Angepassten zu poltern und Staatsgewalt, Arbeitgeber und Gesellschaft allesamt mit ausgestrecktem Mittelfinger bedenkt. Hier gelten die Regeln der Vernunft noch als nicht geschrieben.
Denn auf "Buddhist nihilism" kann grundsätzlich alles passieren, und genau das zeichnet Sudden Infant seit 30 Jahren aus – also seit Landsleute wie Copulation oder Xerxes Von Munsrhein das Publikum mit zerklüfteten No-Wave-Brachen verschreckten. Was den gleichzeitig kargen und brachialen Sound dieses Albums zumindest ansatzweise erklärt, wobei Lanz als dadaistischer Zeremonienmeister souverän über nahezu allen Stücken thront. Am eindrucksvollsten vielleicht über dem knorrigen Spoken-Word-Stakkato "In this moment", einer Art globalem Bewusstseinsstrom in Echtzeit, der wiederholt in flammenden Stromgitarren-Eruptionen zu verglühen droht. Auch ein finales "In this moment / This song is finished" sorgt nur kurz für Erleichterung, ehe "228" die Proto-EBM von DAF in eine Personenschleuder mit Overdrive steckt. Und noch 'ne Runde.
Aber Vorsicht: Die nächste Fahrt geht rückwärts. Wie sich "Tourists" zu einsamem Basslauf und angewiderter Phrasendrescherei aus ramponierten Stimmbändern vorwärtsschleppt und vom Brandenburger Tor durch kaputte Bierflaschen zu den Mauerresten torkelt, ist schlichtweg phänomenal – und wer bis hierhin noch nicht wusste, was Verachtung ist, weiß es spätestens jetzt. Obwohl genau das bereits im doppelbödigen "100 word mantra" klargeworden sein dürfte, das Modelabel-versessene Hipster als wandelnde Litfaßsäulen verhöhnt. Locker lassen Sudden Infant erst, wenn im tosenden "Somniphobia II" auch prügelnde Polizisten ihr Fett wegbekommen haben und Jazz, Funk und Konsorten endgültig in den Müll wandern. Was soll man auch mit dem Gerümpel? Wer dieses verstörend fantastische Album sein Eigen nennt, hat alles, was man braucht.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Rationality
- In this moment
- Tourists
- George Clooney
Tracklist
- Rationality
- Hong Kong nursery
- In this moment
- Maybe you're right
- 228
- Tourists
- Puppet master
- 100 word mantra
- George Clooney
- Brownsville Texas
- French douche
- Somniphobia II
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Armin
2018-11-01 22:22:04- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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- Sudden Infant - Buddhist nihilism (1 Beiträge / Letzter am 01.11.2018 - 22:22 Uhr)