Dota - Die Freiheit

Kleingeldprinzessin / Broken Silence / Believe
VÖ: 14.09.2018
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Wirrheit und Wahrheit

Ich haste die Straße entlang und bin gestresst, weil ich im Yoga-Unterricht die Entspannungsübung wieder nicht richtig hinbekommen habe. Als ich an der hektischen Kreuzung in meine Straße einbiege, stoße ich mit meinem mürrisch gensenkten Kopf fast gegen einen Kiosk. Die Süßigkeiten im verglasten Auslagefenster sind verblichen, die blaue Farbe bröckelt von der hölzernen Verkleidung, und die weißen Buchstaben, die das Wort "Internetshop" bilden, rollen sich bereits an den Rändern ein. Und doch habe ich den Laden noch nie hier gesehen. In dem kleinen Verschlag sitzt eine Frau mit klaren Augen und ausdrucksstarkem Gesicht, ganz versunken lauscht sie dem kleinen Taschenradio neben ihr. Daraus ertönt ein Popsong, den ich noch nie leiden konnte.

Aus Reflex, und weil ich ohnehin direkt davorstehe, nehme ich eine Zeitung aus dem Drehständer und schlage wahllos eine Seite auf. Ich überfliege ein paar Zeilen. Die Nachricht handelt von einem ambitionierten Raumfahrtprojekt, eine Rettungsmission aus der in einer Umweltkatastrophe versinkenden Welt. "Natürlich haben nur die Reichsten und Rücksichtslosen es bis hierher geschafft / Die Elite oder was sich dafür hält, ist hergereist und hat zusammengerafft / Was der Planet hergibt an Organischem und an Kerosin / Um die nächsten tausend Jahre Nutzpflanzen in Nährlösung zu zieh'n."

"Moment", entfährt es mir unwillkürlich, "das ist ja alles gereimt?" "Ja, hier gibt es nur Nachrichten in Reimform", kommentiert die Verkäuferin. Auf den zweiten Blick gleicht sie aufs Haar der Berliner Musikerin Dota Kehr. "Aha." Ich blinzle ungläubig. "Tut das dem Informationsgehalt denn keinen Abbruch?" "Oh ganz im Gegenteil. Poesie und Geschichten bilden die Realität oft genauer und sehr viel schöner ab als Zahlen und Fakten."

Ich blättere um und lese die nächste Meldung "Das Netz sei das Wasser, so viel ist bekannt / Doch die Datenkraken reichen längst mit dem Arm bis an Land / Was Du ihnen gabst, das machte sie groß, und Du hattest es mal in der Hand / Wir teilen, sie herrschen, so sind die Despoten, wir ham sie gewählt und ernannt."

"Woah, langsam", sage ich, während ich unauffällig mein Handy in der Jackentasche ausschalte. "Ist das nicht ein bisschen laut und rabiat für ein Gedicht? Oder für eine Nachrichtenmeldung?" "'Schön', hab ich gesagt. Nicht sanft und gefällig. Jede Zeit kriegt eben die Poesie, die sie verdient."

Der nächste Beitrag handelt von einer frisch Verliebten, die von einem rassistischen Witz ihres Angehimmelten jäh aus dem Konzept gebracht wird. "Vielleicht kommen ein paar Freunde von ihm, sitzen auf dem Sofa, essen Kekse, neigen zur Gewalt / Rassismus ist Rassismus, ob im Witz oder im Prügeln, der gleiche Scheißrassismus halt / Was ist zu tun? Ein Ausweg wär, zu denken, ach er hat's nicht so gemeint, und er scheint so reflektiert / Und so macht's das halbe Land, weil keiner weiß, wie man am besten reagiert."

Ich lasse die Zeitung sinken. Ganz schön deprimierend, diese Gesellschaftsanalyse im Versmaß. "Kopf hoch", tröstet mich die Stimme aus dem Kiosk. "Es gibt noch Hoffnung, das weiß ich. Ich hab schwangere Frauen im Baumarkt gesehen."

Während ich noch darüber nachdenke, ob diese Beobachtung nun wirklich als ultimatives Hoffnungszeichen gewertet werden kann, stoße ich auf überraschende Zeilen. "Wir stehen um den Rattenteich / Die Wolken leuchten watteweich / Dann zieh'n sie weiter bis zum Meer / Die Schwerkraft hält sie fest, doch nicht zu sehr." Wie, jetzt kommt plötzlich ein Naturgedicht in all dem Elend? Ist es in Zeiten wie diesen nicht ein Verbrechen, ein Gedicht über Wolken zu schreiben? "Lies weiter", kommentiert mein Gegenüber nüchtern. Ich gehorche. "Sonnenstrahlen blenden mich, ich blinzel in das Gegenlicht / All diese Schönheit hier um mich, sie braucht, sie braucht das Gegengewicht."

In dieser Welt liegt so viel Schrecken, aber auch so viel Schönheit, denke ich. Deshalb lohnt es sich auch, sich zu empören. So einfach ist das. Auf einmal fühle ich mich viel leichter, und ich ertappe mich dabei, wie ich das Lied aus dem Radio leise mitsumme.

"Ich dachte, Sie hassen diesen Song?" - "Dachte ich auch. Naja, ist doch ganz catchy. Ein bisschen Ska, ein bisschen Pop, filigrane Gitarren, und dann diese putzige Synthiemelodie. Zerbrechlich, tänzelnd, leicht, typisch Dota Kehr eben. Aber woher wussten Sie das überhaupt?" - "Ach, Du, ich, das sind doch nur grammatikalische Platzhalter für eine universelle Erfahrung. Jeder könnte im Prinzip auch jeder andere sein. Sie sind zum Beispiel auch ich." - "Wie meinen?" - "Na diese Rezension. Die Hälfte Ihres Textes ist ja von mir geklaut." - "Oh. Entschuldigung. Das alles ist ja nur meine subjektive Auslegung der Texte. Vielleicht bin aber auch ich Sie." Vielleicht. Ja, vielleicht.

(Eva-Maria Walther)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Bunt und hell
  • Für die Sterne
  • In der Hand
  • Auf dem Drahtseil

Tracklist

  1. Bunt und hell
  2. Raketenstart
  3. Prinz
  4. Nackte Beine
  5. Für die Sterne
  6. Schwangere Frauen
  7. Internetshop
  8. Kapitän
  9. Orte
  10. Die Freiheit
  11. Zwei im Bus
  12. Jeden Tag neu
  13. In der Hand
  14. Drahtseil
  15. Der Himmel
  16. Astronaut
Gesamtspielzeit: 53:51 min

Im Forum kommentieren

Hallohallo

2020-02-22 18:01:28

Da ist sie also, die Band, die Element of Deine, Die Sterne und Wir sind Helden in die Gegenwart holt. Wahnsinn. 9/10.

Cade Redman

2020-01-17 13:17:59

Dota macht schon gute Popmusik. Ich habe sie letztes Jahr mit großer Band gesehen.

Robert G. Blume

2020-01-16 23:55:21

Super. Ich war dort.

Randwer

2020-01-11 16:12:43

Sehr gut.

Hier stand Ihre Werbung

2020-01-11 15:07:40

Neue Single für Fridays for Future:
https://www.youtube.com/watch?v=VxOSGe8HG8o

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