Nine Inch Nails - Bad witch
Caroline / UniversalVÖ: 22.06.2018
Echte Größe
Der Volksmund sagt bekanntlich gerne, es käme auf die Größe an. 2018 wäre demnach ein bislang verdammt unbefriedigendes Jahr. Grouper fuhr auf "Grid of points" mit gerade mal sieben Songs lediglich 21 Minuten neue Musik auf und Kanye West unterbot mit den fünf Alben aus seinen Produktionshänden allesamt jeweils die 30-Minuten-Marke. Immerhin diese überspringt "Bad witch", der neueste Streich aus dem Hause Nine Inch Nails, wenn auch denkbar knapp. Trotzdem ist unklar, was die neuen sechs Songs denn zusammen ergeben. Eine EP war angekündigt, aber weil vor allem bei Streamingdiensten genau diese unter all den Singles so leicht untergehen würden, erklärte Mastermind Trent Reznor das Ding kurzerhand zum vollwertigen Album. Hey, selbst "Broken" hatte damals mehr Songs und mehr Spielzeit! Aber genug vom grauen Feld des statistischen Schubladen-Tangos. "Bad witch" hat nämlich einiges auf dem Kasten, was deutlich interessanter ist.
Zwischenzeitlich konnte man ja durchaus meinen, Nine Inch Nails seien in einer Art Ruhezone für ältere Herrschaften angekommen. Schon "The slip" hakte brav alle Spielmodi des Bandsounds ab, "Hesitation marks" verblüffte gar in seiner routinierten Abgeklärtheit. Sehr gute Alben, keine Frage. Aber auch ein dickes Fragezeichen mitschleppend, ob es das nun war mit der musikalischen Entwicklung. Es brauchte Ende 2016 und Mitte 2017 erst die EPs "Not the actual events" und "Add violence", um klarzustellen: Reznor hat wieder Lust am Experimentieren. Mit dabei: ein so düsteres Sludge-Stück, dass David Lynch es im Reboot von "Twin Peaks" haben wollte, mit "Less than" der eingängigste Hit seit Ewigkeiten inklusive Callback zum seligen "Pretty hate machine"-Sound, ein Song mit exakt 52 Iterationen eines immer kaputteren Soundschnipsels, quasi die Nine-Inch-Nails-Variante von William Basinskis "The disintegration loops". Ziemlich viel los. "Bad witch", eigentlich das Finale dieser EP-Trilogie, geht mit Lust und Laune noch einen Schritt weiter, vereint alle Trademarks und wühlt derweil in Settings und Stimmungen, die der Band bisher fremd waren.
Die albernen Songtitel wiesen womöglich noch auf Standardkost hin, aber "Bad witch" hat damit nichts am Hut. Der Opener "Shit mirror" ist wahrlich ein Zerrspiegel der Nine-Inch-Nails-Brecher, welche die vorigen EPs eröffneten, und vereint die Aggressivität von "Branches/Bones" mit der Melodiösität von "Less than". Süchtig macht das, wenn Reznor unter Industrial-Getöse "Got a new face / It feels alright" brüllt. Unerwartet zögert die Maschine in der Mitte, verfällt ins Mantra: "New world / New times / Mutation feels alright." Es soll der Fahrplan für die folgende halbe Stunde bleiben. Die wuchtigen, cholerischen Ausbrüche in "Ahead of ourselves" mag man noch ins Reich der bekannten Reznor-Tricks stecken. Das leider dämlich betitelte Instrumental "Play the goddamned part" hält sich hingegen ein spinnertes Saxofon über einem grobkörnigen Soundfilter, der die Geräusche im Track über die Gehörgangswände schleifen lässt. Zum Sich-drin-Verlieren, zum Ausbruch in die Ekstase. Hat man so noch nicht von der Truppe gehört.
"God break down the door" wurde bereits oft als Hommage an David Bowies "Blackstar" interpretiert. Sicher ist diese Kombination aus klagendem Gesang, rhythmisch verschobenem Schlagzeug und abermals freidrehendem Saxofon ganz klar mit dem letzten Werk des Ausnahmekünstlers und erklärten Vorbilds verbunden. Der ohne Gnade mitreißende Song dient jedoch auch in der Reise von "Bad witch" als wichtiger Entladungspunkt, als reinigende Klimax. Danach wird es ruhiger, der Seelenfrieden bleibt jedoch in weiter Ferne. "I'm not from this world", der zweite Track ohne Vocals, sucht die Nähe zu Reznors Soundtrack-Arbeiten mit Atticus Ross und verbreitet auch ganz ohne harsche Klänge ein klaustrophobisches Unwohlsein. "Over and out" ist mit knapp acht Minuten das längste Stück und fasziniert noch mehr, wenn es mit einem eigentlich recht entspannt dahertuckernden Beat samt Glockenklängen dennoch in eine kakophonische Überlagerung kippt.
"Time is running out / I don't know what I'm waiting for", singt Reznor dort in einer neuen, pathosgeladenen Stimmfärbung als hinausgeleitende Worte und man mag es fast auf die alte Diskussion um die knappe Spielzeit münzen. Dabei ist natürlich klar: Die Deklaration als Album ist reines Marketing-Kalkül. Genauso offenbar ist jedoch: "Bad witch" hat es absolut verdient, als vollwertige Platte zu gelten. "Not the actual events" und "Add violence" waren fantastische Werke und wirken am Ende doch in gewisser Hinsicht wie Appetizer, als seien sie Zwischenstationen auf der Reise gewesen, deren klar fokussiertes Ziel nun "Bad witch" ist. Mit seinem inneren Spannungsbogen, mit all seiner noch einmal gesteigerten Lust am Experiment, an der Erschaffung faszinierender Klangwelten. Auf die Länge kommt es an? Pfft. Wichtig sind Umfang und Durchschlagskraft.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Shit mirror
- God break down the door
Tracklist
- Shit mirror
- Ahead of ourselves
- Play the goddamned part
- God break down the door
- I'm not from this world
- Over and out
Im Forum kommentieren
Affengitarre
2019-07-07 23:28:04
Gab es da nicht Pläne, dass die EPs in erneuerter Version gebündelt und als Album veröffentlicht werden? Bräuchte ich jedenfalls nicht, die sind so wie sie sind ja sehr stimmig
The MACHINA of God
2019-07-07 23:10:09
Den großen Unterschied zu den zwei Vorgänger-EPs machen hier sicher die Bläser. Ich finde diese wunderbar eingesetzt unnd der Atmosphäre sehr zuträglich. "God break down the door" könnte (besser gesungen) auch von Bowie ("Outside" vs. "Blackstar") sein. Generell hat die EP ab Track 3 eine schöne Stimmung und einen gelungenen Fluss. Schöner Abschluss der Trilogy.
Mal schauen, was folgt...
"Bad Witch"
2018-09-17 20:07:36
Cool! Ein Konzeptalbum über Hillary Clinton.
Come on
2018-09-17 20:05:21
Geb dem Teil noch etwas mehr Zeit sich zu entfalten.
Thanksalot
2018-09-17 19:26:56
Für mich leider nahezu ein Totalausfall. "Over And Out" ist klasse, der Rest will einfach nicht. Zu zerfahren, keine Melodien, die irgendwie hängen bleiben... ich weiß auch nicht.
Not The Actual Events: "She's Gone Away" und "Burning Bright" sind super.
Add Violence: Von vorne bis hinten top.
Bin also sehr zwiegepalten, was den "neuen" Output angeht.
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