Zeal & Ardor - Stranger fruit

Radicalis / MVKA / Rough Trade
VÖ: 08.06.2018
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Der Teufel in uns allen

Nach einem riesigen Hype um seine Person ist die Geschichte von Manuel Gagneux' aktuellem Projekt gemeinhin bekannt, für das Verständnis seiner neuen Platte muss diese dennoch erneut erzählt werden. Denn dass die ersten Songs für Zeal & Ardor als Trotzreaktion auf einen 4chan-User komponiert wurden, der Gagneux dazu aufforderte, Black Metal mit "Nigger music" zu kombinieren, ist auf "Stranger fruit" schon lange nicht mehr der Auslöser für bloße musikalische Spielereien. Stattdessen verbirgt das zweite Zeal & Ardor-Album unter seinen satanischen Beschwörungsformeln erdrückende Gesellschaftskritik, die schon beim Titel anfängt. Dieser ist eine klare Anspielung auf Billie Holidays berühmten Song "Strange fruit", der mit beklemmender Metaphorik den Lynchmord an der schwarzen Bevölkerung anprangert. Und so entfalten Gagneux' lyrische Teufelsbeschwörungen eine noch viel tiefschürfendere Wirkung, wenn er im Closer "Built on ashes" ebenjene Metapher zitiert und danach resigniert: "You will swing free in the breeze there / You are bound to die alone."

Auf dem Weg zu diesem erschütternden Tiefschlag bewegt sich das Album durch das schon auf dem Vorgänger "Devil is fine" erprobte Klangrepertoire zwischen okkulten Gospel-Versen, Blues-Grooves und Black-Metal-Schreien, präsentiert sich dabei aber weitaus gefestigter und macht dadurch das verstörende Konzept überhaupt erst möglich. Nicht umsonst hat etwa schon das Intro von "Stranger fruit" eine eigene Video-Auskopplung spendiert bekommen. Wie Gagneux hier in nur etwas über zwei Minuten den nachfolgenden musikalischen Sturm ankündigt, ist schlichtweg atemberaubend und wird als eine der wirkungsvollsten Eröffnungen der letzten Jahre in Erinnerung bleiben. Während der US-Schweizer über einem monotonen Takt süßlich summt, bahnt sich im Hintergrund allmählich ein berstendes Black-Metal-Crescendo an, das ebenso beängstigend wie anmutig hereinbricht und allein in diesem Moment die Vision hinter Zeal & Ardor besser auf den Punkt bringt, als es "Devil is fine" jemals vermochte. Wirkten die ersten Gehversuche des Projekts nämlich trotz verheißungsvoller Grundanlagen noch oft etwas zu skizzenhaft und plump produziert, ist "Stranger fruit" tatsächlich das große Werk, das Gagneux' Fähigkeiten gerecht wird.

Die 16 Kapitel der Platte machen dabei über ihre Kontinuität eine Entwicklung durch, die mit schleichender Zielsicherheit in das dramatische Finale leitet. So ist zum Beispiel der erste reguläre Track "Gravedigger's chant" noch ein reines Gospel-Epos, das im Vergleich zum Rest trotz seines mörderischen Textes geradezu harmlos fromm anmutet. In folgenden Songs wie "Don't you dare" reichen sich die Elemente dieser im Christentum verwurzelten Gesänge schließlich mit Gagneux' kratzigen Schreien und in Hall versinkenden Gitarrengewittern die Hand. Die Musik driftet immer stärker in düstere Gefilde und wird spätestens ab der zweiten Hälfte und dem Song "Waste" vollständig von der Finsternis übermannt. Diese Progressivität in der Entwicklung der Platte erweckt den Eindruck, Gagneux werde von seinen Dämonen förmlich überwältigt. "Stranger fruit" verwendet Gospel und Black Metal daher nicht nur als bloße Stil-Kontrastierung, sondern setzt sie darüber hinaus als geniales dramaturgisches Element ein.

Am Ende des Albums bleibt die bloße Fassungslosigkeit. Fassungslosigkeit darüber, mit welch akribischer Kontur Gagneux seine imposanten Welten zeichnet. Aber auch darüber, was diese schlussendlich für uns bedeuten. Kurz bevor "Stranger fruit" zum Erliegen kommt, resümiert das Album seine Kernaussage mit der manisch repetierten Formel "Solve et coagula", die im Satanismus mit dem Dämonen Baphomet in Verbindung gebracht wird. Dieser verkörpert in seiner Figur das Gegensätzliche, vereint Gut und Böse und steht sinnbildlich dafür, wie nah diese vermeintlich so weit voneinander entfernten Pole in unserer Gesellschaft doch immer noch zusammenwirken. "Stranger fruit" ist ein schwer zu schluckender Spiegel unserer Existenz, der diesen Umstand niemals offensichtlich macht, den Hörer bei seiner Ergründung aber gerade deshalb umso tiefer trifft.

(Jakob Uhlig)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Intro
  • Don't you dare
  • Waste
  • Built on ashes

Tracklist

  1. Intro
  2. Gravedigger's chant
  3. Servants
  4. Don't you dare
  5. Fire of motion
  6. The hermit
  7. Row row
  8. Ship on fire
  9. Waste
  10. You ain't coming back
  11. Witchery
  12. The fool
  13. We can't be found
  14. Stranger fruit
  15. Solve
  16. Coagula
  17. Built on ashes
Gesamtspielzeit: 47:53 min

Im Forum kommentieren

The MACHINA of God

2024-01-16 13:53:18

Elenden Isolationisten. :)

Robert G. Blume

2024-01-16 13:30:29

Ja geil. Leider nur in der Schweiz streambar. Aber ich versuch es mal über VPN.

fakeboy

2024-01-13 15:11:04

Sehenswerter Film über die ersten Jahre der Band: Play With The Devil

The MACHINA of God

2024-01-13 14:57:08

Immer wieder gut.

The MACHINA of God

2022-03-04 15:57:50

Haha, der Closer ist ja in Sachen Gitarrenintro fast 1:1 "Memory serves" von Interpol. Mir vorhernie aufgefallen.

Tolles Album, wobei ich finde, der Nachfolger kann gut mithalten.

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