Simian Mobile Disco - Murmurations

Wichita/ [PIAS] Cooperative / Rough Trade
VÖ: 11.05.2018
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Chorale Ekstase

Simian Mobile Disco waren nie dafür bekannt, es ihren Fans sonderlich leicht zu machen. Um das zu verdeutlichen ein kleiner Rundumschlag: Nach zwei eher semi-erfolgreichen Band-Alben als Simian überrumpelten James Ford und Jas Shaw unter neuem Alias die Indie-Disco-Szene der Nullerjahre mit "Attack decay sustain release", ein schillerndes, von Genregrenzen nicht zu bändigendes elektronisches Tanz-Pop-Biest allerhöchster Spaßigkeit. Der Nachfolger "Temporary pleasure"lud sich dann gefühlt jede britische Person, die mal auf dem NME-Cover abgebildet war, ins Studio, doch das sollte vorerst das letzte Aufbäumen menschlichen Gesangs auf einem Simian-Mobile-Disco-Album sein. Es folgten technoide Soundlandschaften statt Hits, die Songs wurden immer länger, sperriger und mit der ausladenden Leere von "Welcome to sideways" machte sich zum ersten Mal auch ein deutlicher Qualitätsabfall bemerkbar. Das sechste Studioalbum "Murmurations" bringt nun zwar die Stimmen zurück, doch wer gleichzeitig eine Rückkehr zu alter Leichtigkeit erwartet, wird nach ein bisschen Recherche erst einmal schlucken müssen. Besagte Stimmen sind nämlich die 27 Frauen des experimentellen Londoner Deep Throat Choir, das zugrundeliegende Konzept soll die Formationsbewegungen von Vogelschwärmen vertonen und die durchschnittliche Tracklänge beträgt weiterhin sechs Minuten.

Aufkommende Sorgen um fehlgeleitete Ambition und künstlerische Undurchdringbarkeit sind aber zum Glück gänzlich unbegründet. Tatsächlich agieren Ford und Shaw so zugänglich wie seit einer knappen Dekade nicht mehr, was aber gar nicht an ihnen selbst liegt. Ihre Beats sind noch immer dunkel und hypnotisch, bewegen sich zwischen Minimal Techno und Ambient, suchen die sich langsam entfaltende Ekstase statt des schnellen Ausrasters auf der Tanzfläche. Es ist Deep-Throat-Chorleiterin Luisa Gerstein, die in Form von unglaublich eingängigen Melodien und Refrains den Pop zurück zum britischen Duo bringt. Da kann sich "Hey sister" ganz mühelos bei Hits wie "Hustler" oder "Sleep deprivation" einreihen, nicht, weil es musikalisch sonderlich mit den genannten Songs vergleichbar wäre, sondern weil seine Verbindung von dringlichen, aus zerhackten Kirchenglocken zusammengesetzten Beats mit einer infektiösen Hook genau dieselbe, unmittelbar in den Körper strömende Wirkung entfaltet. Auch das achtminütige "We go" funktioniert wunderbar, weil die – hier und an anderen Stellen übrigens sehr an Warpaint erinnernden – Frauenstimmen immer wieder hochmelodische Gesangsfragmente bilden und die dringend benötigten Ankerpunkte inmitten von Fords und Shaws unruhigem Wellengang darstellen.

Die Wärme der menschlichen Stimme als Kontrastpunkt zur sonst vorherrschenden mechanischen Kälte zu setzen, sei es in Samples oder tatsächlichen Features, ist nichts Neues in der Geschichte der elektronischen Musik, doch selten gelang das so organisch wie hier. Wenn Shaw also im Vorfeld davon sprach, der Chor sei wie ein "human synthesiser", meinte er damit keine Entmenschlichung der Stimmen, sondern die dynamische und natürliche Art und Weise, wie die Frauen mit sich selbst und vor allem der Musik um sie herum interagieren. Das gelingt toll im ätherischen Intro "Boids" oder im sich immer wieder auf- und abbauenden "Caught in a wave", am eindrucksvollsten aber in "Defender", einer treibenden Explosion von Drum- und Percussion-Patterns, inmitten derer Gerstein und ihre Sängerinnen zu fieberhafter Höchstform auflaufen. Und auch, wenn sie die Songs mal nur zurückhaltend akzentuieren wie in "A perfect swarm", büßt "Murmurations" wenig an Faszination ein, weil Fords und Shaws Instrumentals mehr Zug und Spannung entwickeln können als zuletzt. Geschenkt, dass zehn Minuten weniger sicher auch nicht geschadet hätten, die Briten haben auf "Murmurations" eine intensive und fesselnde Hörerfahrung geschaffen, die einem eigentlich bis zum letzten Halm abgegrasten Genre noch ein kleines Bisschen Innovation abringt. Sehr zum Leidwesen des Rezensenten, der sich in Zukuft einen neuen Einleitungssatz überlegen muss – so leicht gemacht haben es Simian Mobile Disco ihren Fans seit Ewigkeiten nicht mehr.

(Marvin Tyczkowski)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • We go
  • Hey sister
  • Defender

Tracklist

  1. Boids
  2. Caught in a wave
  3. We go
  4. Gliders
  5. Hey sister
  6. A perfect swarm
  7. Defender
  8. V formation
  9. Murmuration
Gesamtspielzeit: 54:04 min

Im Forum kommentieren

Armin

2018-05-03 21:00:36- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

Armin

2018-02-22 17:48:36- Newsbeitrag

SIMIAN MOBILE DISCO

“Murmurations” wird das neue Album von Simian Mobile Disco mit Veröffentlichung am 11.05. auf Wichita Recordings heißen.

James Ford und Jas Shaw, aka Simian Mobile Disco, haben sich für ihr fünftes Album die gesangliche Unterstützung des Bella Union Acts Deep Throat Choir geholt und kündigen heute auch die ersten Live-Shows in den UK und US of A mit Hilfe eben dieses Chors an.
Weitere Beteiligte am Album waren die creative directors Kazim Rashid von ENDLESSLOVESHOW (u.a. Aphex Twin, Flying Lotus, Hudson Mohawk) und Carri Munden, sowie die Fotografen James Pearson-Howe und Kiani Del Valle, welche die Choreographie im Video zur ersten Single “Caught In A Wave” erdacht haben.


Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Threads im Forum