Die Nerven - Fake

Glitterhouse / Indigo
VÖ: 20.04.2018
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Reconstruction site

Anständig und genormt sind nur zwei Attribute, die zur baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart passen. Doch nicht erst seit florierenden Waffengeschäften und fragwürdigen Migrations-Deals der Bundesregierung wissen wir: Wo immer man an der Oberfläche kratzt, blitzt die weniger schöne Seite der mit Lorbeeren verliehenen Medaille auf. Dort, in der sauberen schwäbischen Metropole, wo man Gehwege und Treppenhäuser ablecken kann, dort im grünen Ländle, wo der Öko-Protest gegen ungeliebte Großprojekte noch eine Basis hat, wo laut Volksmund der sparsame Biedermeier lebt – dort stopft sich auch die Automobil-Industrie samt Lobby trotz Betruges die Taschen voll, produzieren zigtausende Diesel-SUV die schmutzigste Abgas-Luft aller deutschen Städte. Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn alias Die Nerven stellen sich nicht erst seit ihrer vierten Platte "Fake" die Frage: Was ist heute eigentlich echt? Und vor allem: Wer legt das fest?

Genormt zumindest ist dabei ein Attribut, das so gar nicht zum Schaffen des lärmenden Trios passen mag, dem die Anti-Haltung, das trotzige Dagegensein nachgesagt wird. Ihr destruktiv anmutender, zwischen Nachdenklichkeit und Wut pendelnder Post-Punk auf "Fun" und "Out" jedenfalls steht nicht unbedingt im kompositorischen Lehrbuch für anschmiegsamen Schönklang. Und packt den Hörer dennoch umso mehr. Und nun? "Neue Wellen" spülen zum Auftakt an Land, was geradezu logisch erscheint: "Erlaubt ist was gefällt / Immer wieder neue Wellen / Alles zerfällt." Nach der Resignation kehrt hörbar Zuversicht ein? Jedem Ende wohnt ein Anfang inne, jedem Anfang bekanntlich ein Zauber. Und ohne die Mär, dass immer alles gut werden muss, vor allem die Gewissheit, nicht immer gesellschaftlich auferzwungene Zielfähnlein stecken zu müssen, wie die eingängige Auskopplung "Niemals" zu Protokoll gibt. Die Zeile "Finde niemals zu Dir selbst" jedenfalls hätte Dirk von Lowtzow nicht treffender formulieren können. Die Nerven klingen fast poppig, befreit. Noch mehr Aufbruch versprüht "Alles falsch", diese fast schon kompakte Hymne auf die ewige Standortbestimmung zwischen Gestern und Heute, zwischen dem angeblichen Falsch und dem vermeintlichen Richtig.

Auffallend analytisch und zugleich musikalisch befreit kommt "Explosionen" daher: mehr Gang Of Four als Joy Division, mehr Melodie im Fokus, der Gesang im Vordergrund. Zunächst bedächtig schaukelt das feine "Roter Sand" auf Knoths markantem Basslauf, bevor Riegers geradezu sehnsüchtiges Gitarren-Riff das Stück an sich reißt und nicht wieder loslässt. Klar ist bereits jetzt: "Fake" ist die abwechslungsreichste und durchdachteste Die-Nerven-Platte. Weniger Bauchgefühl, aber kein Gedankenkrampf. Und keineswegs leise: Das geradezu schnaufende "Frei" schmettert statt Graffiti seine wild gewordenen Gitarren-Riffs gegen die Wände, die den Stillstand bisher manifestierten. Und macht Mut: "Lass' alles los / Gib' alles frei / Nichts bleibt!" Alles auf Null, eine Entschlackungskur für die Seele. Die Gitarren in "Aufgeflogen" und "Skandinavisches Design" sägen sich in den Grund, wühlen tief im Post-Punk-Matsch – die Kehrwoche hätte jetzt tatsächlich Sinn. Laut, leise, laut und wieder zurück, über Berg und Tal führt das episch-bombastische, sechsminütige "Dunst". Ein Schelm, wer da an Conrad Keely samt Gefolgschaft denkt.

Was nun ist "Fake", was ist das Echte, das Aufrechte? In Zeiten, in denen jeder die Wahrheit mit Baggerschaufeln gefressen hat, seine noch so steile Theorie als Fakt im Netz verbreiten darf – natürlich auch ein Thema des Albums –, sind Die Nerven mehr kritische Beobachter denn Rudelsführer. Rieger und Knoth deuten bewusst an, bleiben im Ungewissen, liefern keine Parolen, erzwingen keine Standpunkte, aber rütteln an Gedanken. Sie fordern den Hörer heraus, in dieser schnelllebigen Welt den ständigen Prozess zwischen Erleben, Einordnen und Reflektieren als das Spannende, das Persönlichkeitsbildende wahrzunehmen. Und gehen das Thema dennoch offensiv an: "Her mit Euren Lügen / Her mit Eurem Neid!" Als wollten sie sagen: Kommen wir klar mit. "Fake" ist das wohl formvollendetste Album, das die Dekonstrukteure vom Dienst machen konnten.

(Eric Meyer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Niemals
  • Frei
  • Roter Sand
  • Alles falsch
  • Explosionen

Tracklist

  1. Neue Wellen
  2. Niemals
  3. Frei
  4. Roter Sand
  5. Alles falsch
  6. Dunst
  7. Aufgeflogen
  8. Der Einzige
  9. Skandinavisches Design
  10. Explosionen
  11. Kann's nicht gestern sein?
  12. Fake
Gesamtspielzeit: 46:15 min

Im Forum kommentieren

u.x.o.

2023-02-17 21:07:10

Influencer und Erde gleich sind für mich auf dem neuen Album irgendwie Totalausfälle. Erde gleich war aber zumindest live ein Brett.

Fake mag ich sehr gerne, Out und Fun sogar noch mehr.

Glufke

2023-02-17 20:02:46

"Fake" ist wahrscheinlich die zweitbeste, aber ganz schaffe ich sie oft nicht. Sehe da das aktuelle Album tatsächlich meilenweit drüber. Da skippe ich nur den "Influencer" und die Hälfte der Songs kratzt an der 10/10.

fuzzmyass

2023-02-17 17:30:14

Finde die neue schon um ein Stück besser.. aber Fake ist auch gut

Lateralis84skleinerBruder

2023-02-17 17:04:55

Fake lasse ich auch durchlaufen. Die S/T skippe ich zur Hälfte

Watchful_Eye

2023-02-16 22:43:52

Jap. "Fake" kann ich durchhören, die neue nicht.

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