Cosmo Sheldrake - The much much how how and I

Transgressive / [PIAS] Cooperative / Rough Trade
VÖ: 06.04.2018
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Ich höre was, was Du nicht hörst

Es bereitet der Rezensentin einige Schwierigkeiten, für das musikalische Werk von Cosmo Sheldrake Worte zu finden, die neben denen des Künstlers selbst nicht fade und irrelevant wirken. Er schreibt zum Beispiel über den Titel "Mind of rocks": "Dieser Song enthält das Geräusch von Fledermäusen, aufgenommen in Panama. Er enthält auch einige Aufnahmen von mir, wie ich einem Klassenzimmer voller Sechsjähriger Beatboxing-Unterricht erteile und Aufnahmen eines Orkans in Schottland." Oder über "Come along": "Dieser Song handelt von Hybris und den Tücken der Kurzsichtigkeit. Er enthält viele Geräusche, wie eine Rolltreppe am Bahnhof St. Pancras International, das Schnurren meiner verstorbenen Katze Cocoa, einen Sturm in Snowdonia, eine Blaskapelle, viele Holzbläser und ein Streichquartett."

Noch Fragen? Ich hätte eine: Was ist eigentlich verquer gelaufen im Leben von Cosmo Sheldrake? Antwort: So einiges. Einer seiner ersten musikalischen Einflüsse war der mongolische Kehlkopfgesang, den seine Mutter unterrichtete. Als musikalischer Autodidakt lernte Sheldrake über 30 Instrumente, darunter Klavier, Banjo, Schlagzeug und Sousaphon, eine Art Tuba. Dann studierte er auch noch Anthropologie und leitet neben besagten Beatboxing-Kursen Wildnis-Abenteuercamps für Jugendliche. Vor allem sammelt er leidenschaftlich Töne und Geräusche aller Art, vor allem seltene oder vom Aussterben bedrohte. Feldaufnahmen sind für Sheldrake Ausschnitte der Wirklichkeit, die neben ihrer unmittelbaren Akustik die unterschiedlichsten Kontexte einfangen und – mal roh, mal aufwändig bearbeitet – ihre ganz eigenen Geschichten in die Songs hineintragen. Bei den Texten hingegen greift Sheldrake auch mal gerne auf die Nonsens-Lyrik von Lewis Carroll and Edward Lear zurück. Kurzum: Was für ein Nerd! Dass bei all diesen Ansprüchen dabei keine elitär-experimentelle Kakophonie, sondern das musikalische Pendant zu einem Wimmelbild herauskommt – bunt, aufregend, mit schier endlosem Potenzial für neue Entdeckungen –, ist ihm hoch anzurechnen.

Zum Glück hat Sheldrake eine ausgesprochene Vorliebe für englische Volkslieder und orientiert sich an deren putziger, verspielter Melodik. Die Arrangements sind zudem recht orchestral – die kuriosen Geräusche fügen sich nahtlos zwischen all die Oboen, Geigen und Flöten. "Wriggle" etwa beginnt mit einem sich langsam ausweitenden Sammelsurium an Orchesterinstrumenten, die wie eine Gruppe drolliger Tiere miteinander spielen, hüpfen, kreischen, sich überschlagen und so übermütig um die eher traurige Melodie herumwirbeln, dass man ihr die Schwermut kaum anmerkt. Später treten dumpfe Schläge und ein vielstimmiges Rascheln, Knistern und Poltern hinzu, was ein bisschen wirkt wie ein Elefant, der es sich im Porzellanladen bequem macht. "Come along" klingt teils wie bedrohliche Filmmusik, dann wie ein Volkslied, um im Refrain einen absolut hüftschüttelnden Rhythmus loszulassen. Es gibt auch chansonartige Stücke wie "Solar waltz", in dem eine alte Drehleier und eine Trompete einen herzzerreißenden Tanz aufs Parkett legen. Im letzten Track "Hocking" fährt Sheldrake noch einmal sein ganzes Inventar zum großen Finale auf: Alles was tiefe Töne erzeugt – wahrscheinlich auch dieses Sousaphon –, vereint sich zu einem schnaubenden und dröhnenden Fundament, auf dem sich samt Minion-Hintergrundchor eine elegante Melodie entwickelt. Zum Schluss steigert sich alles zu einer grandiosen, ausgelassenen Karnevalsfeier, die keinen Stein auf dem anderen lässt.

Und was soll uns das Ganze sagen? Die Verschmelzung von natürlichen und künstlichen Klängen ist letztendlich auch eine Reflexion über die Beziehung von Mensch und Umwelt. Darüber, wie menschengemachte Kategorien, die wir der Wirklichkeit und insbesondere der Natur überstülpen, dieser in ihrer Komplexität und Flüchtigkeit oft nicht gerecht werden. Wer es weniger poststrukturalistisch mag, kann sich in das Album begeben wie in einen Abenteuerspielplatz, Fledermäuse fangen, dem Orkan davonlaufen und Schicht für Schicht das große und großartige Klangrätsel entwirren, das Sheldrake uns hier vorsetzt.

(Eva-Maria Walther)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Wriggle
  • Come along
  • Egg and soldiers
  • Hocking

Tracklist

  1. Linger longer
  2. Wriggle
  3. Birth a basket
  4. Birthday suit
  5. Come along
  6. Solar waltz
  7. Mind of rocks (ft. Bunty)
  8. Spring bottom
  9. Egg and soldiers
  10. Axolotl
  11. Pliocene
  12. Linger a while
  13. Beetroot kvass
  14. Hocking
Gesamtspielzeit: 48:12 min

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MopedTobias (Marvin)

2020-04-30 20:02:08

Das beschriebene Phänomen konnte ich bei mir nicht ausmachen, aber gut find ich das Album trotzdem.

Xavier

2020-04-30 19:05:19

Edit: "hypnotischer Ausstrahlung am Keyboard"

Xavier

2020-04-30 19:03:33

Der Mann ist leider ein wenig crazy, aber von geradezu hypnotischen Ausstrahlung Keyboard. Das Album ist großartig, und es wird alle, die es noch nicht gehört haben, in ganz neue und ungewohnte Tiefen des Fühlens und der Wahrnehmung stürzen.

wueman

2018-04-11 20:32:48

schön geschriebene rezension! :)

muss ich mir mal anhören.

Der Untergeher

2018-04-06 12:39:47

Mal ein interessantes Album der Woche. Werde reinhören. Und, gute Rezi! Danke fürs Aufmerksam machen.

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