Jenny Wilson - Exorcism
Gold Medal / Broken SilenceVÖ: 23.03.2018
Irreversibel
Man könnte erst einmal einiges erzählen. Etwa, dass sich im Umfeld des Rezensenten Ende Dezember regelmäßig einige Musikverrückte treffen, um ihre Lieblingsplatte des Jahres vor Publikum zu präsentieren – auf Vinyl natürlich, wie es das in Divisionsstärke anwesende Nerdtum verlangt. Und dass 2009 ein mit den Modalitäten nicht vertrauter Herr nach vorne trat, um wenigstens seinen Lieblingssong des Jahres vorzuspielen – vom Handy. Entgeistertes Schweigen. Doch dann handelte es sich mit "Let my shoes lead me forward" aus dem nicht so üblen Debüt "Love and youth" von Jenny Wilson um ein vorzügliches Stück. Was für eine putzige Erinnerung. Interessiert kein Schwein? Smalltalk pur? Gewiss. Doch manchmal hat man einfach das Bedürfnis, kurz über etwas Leichtes zu reden. Zum Beispiel nach Wilsons fünftem Longplayer "Exorcism". Und welche Art Teufelsaustreibung die Schwedin praktiziert, verdeutlichen schon die unmissverständlich betitelte Single "Rapin'" samt erschreckend eindeutigem Animations-Video.
Wilson wurde nämlich Opfer sexueller Gewalt, und davon handelt jeder Sound, jeder Beat und jeder schmerzverzerrte Stimmfetzen auf "Exorcism". Genauso wie von der Zeit danach, der Angst vor ungewollter Schwangerschaft und Krankheiten sowie den Auswirkungen des Verbrechens aufs eigene (Liebes-)Leben. Der Vorabtrack fragt verständnislos "Did you pick me cause there's no one else around?", während die Rhythmen wie zur vergeblichen Flucht beschleunigen, "Lo' hi'" legt nach: "Wanna know my secret? / Listen you all / Make sure you won't pass it on" – das macht Wilson selbst. Zunächst schockiert ihr offensiver Umgang mit dem schwer Fassbaren – und geht dann gnadenlos an die Nieren. Gerade zu Anfang fällt es angesichts panischer Bewusstseinsströme wie "Stop, turn around / Do I realize this is happening right now?" oder dem expliziten Hilferuf "Trespassing in a no-go zone / His right hand, his dick in a hole" zuweilen schwer, die musikalischen Dimensionen dieses Albums auf Anhieb zu würdigen.
Trotzdem sind diese nach den glamourös schillernden Vorgängern "Demand the impossible!" oder "Hardships!" bemerkenswert, denn analog zum verstörenden Inhalt quetscht Wilson oft den letzten Rest Soul aus den Songs und ersetzt ihn durch eisiges Maschinengeklacker und pulsierende Elektronik. Das wirkt einmal, als würde Robyn zur furchtbaren Vergewaltigungsszene aus Gaspar Noes Spielfilm "Irreversibel" schrill geifernd einen Disco-Track vor sich herkicken, ein andermal wie eine pervertierte Version des sexuellen Selbstermächtigungsbrockens "Plunge" von Landsmännin Karin Dreijer alias Fever Ray – schon 2003 hatte Wilson bei The Knifes "You take my breath away" am Mikro gastiert. Doch mag der neongrelle Reißer "The prediction" noch so fidel durch den Club poltern und heulen wie eine Sirene – die Zeile "You can't decide over your life" kommt zur niederschmetternden Schlussfolgerung: Schreckliche Dinge können jederzeit passieren, Erklärungen gibt es keine, nichts wird gut.
Erst nachdem sich Wilson ihre Ohnmacht und ihre Wut auf den Täter aus dem geschundenen Leib gebarmt hat, schlägt sie leisere Töne an – aber nicht weniger bittere. Vor allem das Geständnis "It hurts" ist ein zutiefst seelisches, gekleidet in einen Vocoder-gestützten Popsong, der erst allmählich in Fahrt kommt und in einem wunderbaren, psychedelischen Singsang-Refrain gipfelt. Thema ähnlich wie in "Your angry bible" oder "It's love (and I'm scared)": die Unmöglichkeit, nach dem Übergriff eine Beziehung aufzubauen und die emotionale Ignoranz wehleidiger Männer – von deren Spezies ein Exemplar die Schuld an Wilsons Verfassung trägt. Und es verleiht ihr Größe, wenn sie im imposanten, technoiden Titelstück ihren Peiniger als Menschen statt als Ungeheuer sieht und ihm Vergeltung lediglich durch ihre Songs androht – davon allerdings überreichlich. Auf einem Album voller Schonungslosigkeit, kaltgepresster musikalischer Vehemenz und Sehnsucht nach innerem Frieden. Ein entsetzliches Meisterwerk.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Lo' hi'
- It hurts
- Exorcism
Tracklist
- Rapin'
- Lo' hi'
- Disrespect is universal
- The prediction
- It hurts
- Your angry bible
- Exorcism
- It's love (and I'm scared)
- Forever is a long time
Im Forum kommentieren
MM13
2018-04-01 10:03:10
unglaubliches album,selbst wenn man nur die musik für sich nehmen würde und das thema der texte ausblenden würde,dafür sind sie aber viel zu wichtig,richtig stark. 8/10
Armin
2018-03-29 20:40:00- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.
Referenzen
Spotify
Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv
Threads im Forum
- Jenny Wilson - Exorcism (2 Beiträge / Letzter am 01.04.2018 - 10:03 Uhr)