The Decemberists - I'll be your girl

Beggars / Rough Trade / Indigo
VÖ: 16.03.2018
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Weichenwechsel

Scheinbar ist es nie zu spät für einen stilistischen Weichenwechsel: The Decemberists, eine der wohl beliebtesten Bands im Plattentests.de-Kosmos, dachte sich das vermutlich auch, als sie begannen an den Stücken für ihr neues Album "I'll be your girl" zu arbeiten. Es ist ihr achter Langspieler und möglicherweise ihr eigenartigster: Knallige Synthesizer und andere elektronische Sperenzchen halten Einzug, bekommen an prominenten Stellen viel Raum zur Entfaltung. Dort, wo man früher Indie-Rock, Folk und Kammermusik vermählte, regiert nun häufig der quietschige Klang dringlicher Keyboards. Die großen, Arme ausstreckenden Hymnen wurden dabei auch größtenteils aus dem Programm genommen, die meisten Stücke pendeln zwischen zwei und dreieinhalb Minuten Spielzeit, verstehen sich also eher als Miniaturen, vielleicht sogar als Skizzen, Fingerübungen. Nicht auszuschließen, dass diese Platte also eine Art Übergangsalbum darstellt auf dem Weg in einen anderen, weniger klassischen Aggregatzustand.

Der Start ins Album gestaltet sich programmatisch: "Once in my life" erinnert zu Beginn noch am ehesten an frühere Großtaten der Band aus Portland, Oregon, ehe das Stück eine Wandlung durchmacht, sich selbst eine elektronische Infusion setzt und damit den stilistischen Richtungswechsel einläutet. Die erste Single "Severed" kam hingegen direkt verzerrt daher, getrieben von einem heiß laufenden Beat, die Gitarren dienen hier lediglich als knöcherne Korsettstangen, durch die sich die zunehmend trippigen, wild zappelnden Synthies hindurchschlängen. Nicht jeder Anhänger der Band nahm den neuen Sound positiv auf, die Meinungen gingen diesbezüglich weit auseinander. Zum Vorbild nahmen sich Colin Meloy und seine Mitstreiter übrigens den Sound von Koryphäen wie New Order und Roxy Music. Der mit dem Grammy Award ausgezeichnete John Congleton produzierte die ganze Chose, was auch aufhorchen lässt, ist er in der Regel doch ein Mann der knackig-rockigen Töne.

Hier wird der eloquente, vergangenheitsbewusste Folkrock also immer wieder gebrochen, abgelenkt und umgeleitet, teils sogar in ganz neue Umlaufbahnen geschossen: "Your ghost" beginnt beispielsweise als zupackende, britrockige Uptempo-Nummer, dudelt sich dann im Verlauf selbst schwindelig und fällt am Ende mit einem Drehwurm in den Knochen förmlich auseinander. Das kurze "Starwatcher" schaut verträumt in den dunklen Nachthimmel, wird dann aber von den kräftigen Trommelschlägen von den Beinen geholt. Nicht jedes Experiment glückt The Decemberists dabei und überhaupt klingt "I'll be your girl" merkwürdig zerklüftet, so als habe man möglichst viele Einflüsse auf einmal in eine Dreiviertelstunde packen wollen. "Cutting stone" bleibt eine blasse, kaum memorable Akustik-Skizze, über die später der große Synthie-Schauer herabregnet. Da wäre wirklich mehr drin gewesen.

Auch das relativ generische "We all die young" kommt mit seinem konservativen Songaufbau kaum aus dem Quark, da hilft auch die penetrante Wiederholung des Titels nichts: The Decemberists machen sich mit derlei Stücken selbst keinen Gefallen. Dass sie im Prinzip auch ganz anders können, beweisen sie mit dem zweigeteilten "Rusalka, Rusalka / The wild rushes", das in seinen acht Minuten schon fast proggige, opernhafte Züge ausbildet und damit an ihr 2009er-Album "The hazards of love" andockt. So kraftvoll und kreativ erlebt man die Band gerne, nur wird die Differenz eben sehr deutlich spürbar: "I'll be your girl" ist in der Gesamtheit mitnichten ein schlechtes Album, aber in der Diskografie der Decemberists vielleicht doch der erste relevante Ausschlag nach unten. Den Weg zurück an die Spitze traut man dieser Band jedoch ohne weiteres zu.

(Kevin Holtmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Once in my life
  • Rusalka, Rusalka / The wild rushes

Tracklist

  1. Once in my life
  2. Cutting stone
  3. Severed
  4. Starwatcher
  5. Tripping along
  6. Your ghost
  7. Everything is awful
  8. Sucker's prayer
  9. We all die young
  10. Rusalka, Rusalka / The wild rushes
  11. I'll be your girl
Gesamtspielzeit: 43:09 min

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2021-02-18 13:53:48

"Die" = Castaway & Cutouts?

Telecaster

2021-02-18 00:17:06

Bin vor ner Weile wieder auf Castaways & Cutouts gestoßen, und habe festgestellt, dass ich die doch sehr viel besser finde, als ich dachte.

dieDorit

2021-02-15 16:58:22

Rusalka ist toll und würde sicher in der Top 10 meiner liebsten Decemberists-Songs landen. Der Rest hat mich aber damals schwer enttäuscht. Ich höre mich aber gerade eh wieder durch deren Output und werde somit auch diesem Album nochmal ein Ohr schenken.

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2021-02-14 15:08:40

Man, das Album wurde nach Release ja echt komplett vergessen. Höre es gerade wieder und mir gefällts.

Rasmussen

2018-03-29 23:44:56

Hatte ja Angst nach den Reaktionen überhaupt reinzuhören. Aber die Kritik find ich doch arg überzogen. Nach den ersten Durchgängen blieb bei mir wesentlich mehr hängen als etwa bei Hazards of Love und King is dead.

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