Liebe Frau Gesangsverein - Nackt

Roaring / Cargo
VÖ: 23.02.2018
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Maßanzug

Selbst wenn sie vordergründig nicht aus feministischem Impetus losgetreten wurde: Die #metoo-Debatte ist nicht nur das lange überfällige Anprangern des alltäglichen Sexismus innerhalb der Gesellschaft, sie ist auch ein Hoffnungsträger für das Überdenken von unbewusst anerzogegenen, scheinbar traditionellen Konventionen, die es als normal definieren, bestimmten Gruppen oder Geschlechtern mit weniger Respekt zu begegnen, bloß weil das schon immer so war. Ob die Bewegung wirklich einen nachhaltigen Prozess in Gang setzen kann, bleibt anzuwarten. Im Musikbusiness, betrachtet man das Verhältnis von männlich oder weiblich einmal aus der rein quantitativen Ecke, ist es in Sachen Gleichberechtigung ein beinahe noch weiterer Weg – nicht nur das Jugendmagazin Puls hat sich diesem Thema kürzlich ausführlich und auch sehr anschaulich per Line-Up-Analyse beliebter deutscher Festivals gewidmet.

Im meist gedämpften Licht der Thematik scheint es da nur eine kleine, aber feine Anekdote, wenn die die Kölner Band Liebe Frau Gesangsverein für ihren Bandnamen mal eben einen traditionsreichen Kalauer entmännlicht. Denn auf den härteren Spielwiesen der Popmusik, etwa Metal, Hardcore und Punk, gibt es immer noch erschreckend wenige Bands mit weiblicher Besetzung. Gegen diesen Missstand sind die selbstbewusste Ricarda Giefer und ihre Kollegen nicht explizit angetreten, aber dennoch ist es erfrischend für ein Genre, das auch in Deutschland von Männern dominiert wird, wenn eine Frontfrau die Texte ins Mikrofon zimmert. "Nackt" also aus Protest? Nein, gemäß des Albumtitels geht es vielmehr um innere Vorgänge, die sich unverhüllt nach außen winden. Um Albträume, um den Kampf mit der Widersprüchlichkeit der Gefühle.

Und in diesem Zusammenhang natürlich auch um Trennung um Abschied, wie im moll-punkigen Hit "Für immer wieder", der den bitteren Moment der Leere auch sprachlich geschickt einfängt: "Du hast mich hier gelassen / Mitgenommen seh' ich aus / Dort schlucken neue Wände Deine alten Lieder / Was Du nie warst / Hallt hier für immer wider." Die Geschichten auf dem Debütalbum "Nackt" sind meist gerade heraus erzählt, spielen durchaus mit Metaphern, sind aber nicht verkopft. Drehen sich manchmal, wie die ruppige zweite Single "Hier sein ist so schwer", um persönlichen Stillstand, um die verzwickten Lethargie in Beziehungen. Um Situationen, in denen man wie gelähmt scheint: "Öl im Getriebe / Sand zwischen den Zähnen und Zehen / Ich hab' Angst vor der Tiefe / Werde nicht ins Wasser gehen."

Der Punkrock, den Liebe Frau Gesangsverein pflegen, zeichnet sich durch eine recht offene Spielart aus: Da trifft Post-Punk im Stile moderner Vorbilder der Szene auf Indie-Pop mit NDW-Anleihen, ohne ins Seichte abzudriften. Dank Giefers zierlich anmutender Stimme steht der dreckige Bodensatz zwar oftmals nicht an vorderster Stelle, doch die Kölner kehren ihn bewusst nicht zu sehr heraus. Auch nicht dort, wo es logisch wäre, wie im melodieseligen Opener "Es tut mir leid", der den Kessel erst anheizt und ihn in der letzten Minute schließlich aus allen Löchern pfeifen lässt, inklusive Metal-Solo. Im feinen Anti-Blender-Stück "Erfunden" oder bei schnelleren Songs wie "Schwarzes Brett" kommt mitunter tatsächlich ein wenig Pascow-Feeling auf. Die Stärke der Platte steht auch klar im Zusammenhang mit dem Namen Kurt Ebelhäuser: Wie schon den letzten Pascow-Releases verpasst der ehemalige Blackmail- und Scumbucket-Mann "Nackt" einen flexiblen, vor allem aber druckvollen Klanganzug. Und ja, liebe Puristen und Gestrige: Der steht auch Musik mit Frauenstimme.

(Eric Meyer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Es tut mir leid
  • Erfunden
  • Für immer wieder
  • Hier sein ist so schwer

Tracklist

  1. Es tut mir leid
  2. Erfunden
  3. Für immer wieder
  4. Hier sein ist so schwer
  5. Letzten Mai
  6. Lunapark
  7. Schwarzes Brett
  8. Rückwärts verlieben
  9. Watt
  10. Nächtliche Gespenster
Gesamtspielzeit: 34:57 min

Im Forum kommentieren

Pressersprecherein vom Fem*Ref der Uni Bielefeld

2018-06-21 11:36:15

"Frau" und "Nackt" in einer Zeile? Das ist an Sexismus und Frauenverachtung nicht zu überbieten!

Rolf

2018-06-21 11:10:15

Haha cooler Bandmame!

Meinung

2018-02-26 15:14:07

Was für ein dämlicher Bandname.

rené

2018-02-26 15:07:08

danke für das aufmerksam machen. interessant, wenn auch noch etwas ungelenk alles, nicht?

the real knobi

2018-02-26 09:12:50

Frau und Nackt. Toll.

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