Isolation Berlin - Vergifte Dich

Staatsakt / Caroline / Universal
VÖ: 23.02.2018
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Es brennt so schön

Kennt das noch jemand? Die Blase ist randvoll, und doch zögert man den Gang zur Toilette ein klein wenig länger hinaus als nötig. Einfach weil es sich so befreiend anfühlt, wenn es dann endlich fließen kann, ganz egal ob es zuvor ein bisschen brennt. Normalerweise scheut man ja Schmerzen. Wenn man weiß, dass etwas weh tun wird, dann meidet man es in aller Regel. Als der Rezensent die Bemusterung des neuen Isolation Berlin Albums auf den Tisch bekam, war es eine Mischung aus beiden beschrieben Situationen. Er wusste: "Vergifte Dich" wird fies in Wunden pieken, aber es wird auch erlösen. Aus Angst und Vorfreude zugleich ließ er es noch ein wenig liegen. Er nahm sich ein Datum zum Hören vor, plante die Situation (ein ziemlich stereotyper Waldspaziergang) und wurde nicht enttäuscht.

Die neue Isolation Berlin sollte man wahrlich nicht unvorbereitet hören. Allein diese songgewordene Zyankalikapsel des Titeltracks kann einen kalt erwischen. "Wenn Du keinen Sinn mehr siehst", lautet bereits die erste Zeile von "Vergifte Dich" und versetzt prompt in depressivste Episoden. Das Delirium als Gedankenbremse, es wird hier stürmisch gefeiert und bildet den anderen Teil der Ausweggabelung im Vergleich zu "Fahr weg" vom letzten Album. Zwar hatte schon "Und aus den Wolken tropft die Zeit" seine größten Momente in den seelischen Tiefen, sein Nachfolger agiert hier aber zuweilen noch pessimistischer. Zumindest textlich, denn musikalisch erscheint "Vergifte Dich" eher wütender. "Die Leute" beispielsweise könnte ebenso ein krachiger Die-Nerven-Track sein. "Die Leute wollen Blut sehen", schreit Sänger Tobias Bamborschke den Post-Punk-Ausschmückungen des Stücks entgegen. So zeigt sich der Menschenhass an dieser Stelle alles andere resignativ. Auch "Kicks", als Single bereits erschienen, hat mit seiner wirr verzerrten Elektrischen ordentlich Zunder unterm Kessel und entfaltet sich entsprechend seinem Namen wie ein musikalisiertes Borderline-Syndrom.

Anderswo wird es melodischer: Etwa das bereits ausgekoppelte "Marie", das einer alten Liebe das Nachtrauern verbietet, "Antimaterie", das fast Singalong-Qualitäten mitbringt, oder aber "In Deinen Armen", einem "Du hast mich nie geliebt" 2.0, das dem Hörer spätestens dann die Tränen kommen lässt, wenn es heißt: "Und ich flieg zu meiner Oma / Die wohnt auf 'nem anderen Stern / Sie sagt das Freuen habe sie vor langer Zeit verlernt / Und ich glaub, dass es mir genauso geht." Fuck! "Wenn ich eins hasse, dann ist das mein Leben" ist ähnlich freudlos, aber immerhin findet es in seiner aufkeimenden Wut ein Ventil. "Mir ist alles zu viel" brüllt Bamborschke und schlägt sämtliches Belastende in die Flucht. "Serotonin" hat ebenso Lust auf fliegende Fetzen, haut "ein paar Fressen" ein und träumt dabei von Wien. Verständlich. Im einzig von der akustischen Gitarre begleiteten "Vergeben heißt nicht vergessen", das von Stimmung und Rhythmus an Gisbert zu Knyphausens "Morsches Holz" erinnert, finden Isolation Berlin ihren affektiven Tiefpunkt, die Platte gleichzeitig ihren lyrischen Höhepunkt. Es ist eine ganz bittere Pille, die es hier zu schlucken gilt: Der Stillstand untergräbt die Grundfesten des Protagonisten, wie betäubt marschiert er durch Jahreszeiten und von Rausch zu Rausch, und doch, trotz all seiner Bemühungen, will der Kummer nicht vergehen.

"Melchiors Traum" stellt sich dem entgegen. "Ich bin nicht schlecht" wiederholt Bamborschke inmitten klanglicher Disharmonien immer wieder und steigert sich dabei so lange stimmlich, bis er es endlich glaubt. Es ist die zentrale Zeile des Stücks, oder vielleicht sogar der ganzen Platte. Denn all der Hass, all die Verzweiflung, sie erscheint oft wie von außen aufgebürdet, hinein ins Herz gestempelt von der Welt. Die von sich gewiesene Schuldfrage ist so banal, und dennoch spielt sie eine zentrale Rolle dabei, sich wieder aufzurichten. Natürlich ist "Vergifte Dich" selbstmitleidig wie Sau, aber das ist Isolation Berlin eben auch nicht peinlich. Konventionen, die besagen, man müsse performant sein, man dürfe nicht trauern, nicht leiden, nicht von den Qualen des Lebens geplagt sein und schon gar nicht darüber sprechen, werden hier völlig zurecht übergangen. Dem Vierer gelingt es abermals den Schmerz durch Musik zu kanalisieren, dass der Hörer daran teilhaben kann, dass auch ihm die Möglichkeit zuteil wird im Mitempfinden eigene Nöte zu erkennen und auszudrücken. Das brennt schon mal, aber es fühlt sich so befreiend an.

(Pascal Bremmer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Vergifte Dich
  • Melchiors Traum
  • Vergeben heißt nicht vergessen
  • Die Leute

Tracklist

  1. Serotonin
  2. Vergifte Dich
  3. Wenn ich eins hasse, dann ist das mein Leben
  4. Melchiors Traum
  5. Vergeben heißt nicht vergessen
  6. Marie
  7. Antimaterie
  8. In Deinen Armen
  9. Die Leute
  10. Kicks
  11. Mir träumte
Gesamtspielzeit: 43:13 min

Im Forum kommentieren

crispin1

2019-01-04 12:20:53

Gerade durch den Redaktions-Jahrespoll wieder auf "Vergeben heißt nicht vergessen" aufmerksam geworden. Was für ein im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblicher Song!
So schön, so wahr, so traurig, so hoffnungslos und gleichzeitig hoffnungsvoll, so umarmend und im selben Moment doch irgendwie die totale Kapitulation, der endgültige Rückzug von allem und jedem.
Und am Ende mit dem Schnee das wohl schönste lyrische Bild des Jahres.

Bremmer hat recht:
Der Song geht wirklich fast zu nah ... ich liebe ihn auch.

Armin

2018-09-17 18:57:36- Newsbeitrag

Staatsakt_Logo

Isolation Berlin – Serotonin
Neues Video hier sehen:
aus dem Album „Vergifte dich“ (Staatsakt/caroline)

Bonjour Tristesse

Willkommen im Leben des Tobias Bamborschke. Oder ist es am Ende das Leben des Yannick Riemer?! Nun, irgendwer aus der legendären Isolation-Berlin-WG im Berliner Gleimkiez wird es schon sein, der sich im neusten Video zur Single „Serotonon“ müde vom Alltag zum Pfandflaschenautomat schleppt, dem Hänchen-Döner-Pommes-Buden-Mann zuprostet, im Mauerpark von Wien träumt und dem (inneren) Hund den Rücken krault. Mit unfassbar viel Liebe, Geduld und Ausdauer von Lazy Rig inszeniert und produziert, dass es eine wahre Wonne ist! Eine Knetmännchen-Animation für alle Antriebsschwachen und Traurigen da draußen. Also eigentlich für uns alle.
„Wenn du mich suchst, du findest mich am Pfandflaschenautomat, da hol ich mir zurück, was mir gehört“, singt Bamborschke dazu, viel es ist nicht, was es zu holen gibt. So geht’s im Leben all zu oft. Und dann bauen wir uns ein Kartenhaus aus Serotonin. Und finden dennoch Trost.

Studiert, Mitte 30, im Job gefangen

2018-09-11 22:34:32

"Sie sagt, das Freuen habe sie vor langer Zeit verlernt."

MopedTobias (Marvin)

2018-09-11 20:58:06

Sehr tolles, herrlich kaputtes Album, circa auf einer Stufe mit dem Vorgänger "Serotonin" find ich gut, passt aber wirklich so gar nicht rein, weder vom Sound noch als Opener. "Vergeben heißt nicht vergessen" ist auch mein Highlight.

Mister X

2018-06-24 23:26:56

Sowat von ne 10/10

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