Mine und Orchester - Live in Berlin

Pennywine / Soulfood
VÖ: 02.02.2018
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Viel für mehr

Deutsche Popmusik ist ein schwer zu bestellendes Feld. Die vielen harten Konsonanten in der Sprache und die vermeintlich radiotauglichen Themen, die sich am schmierigen Kanon der Irrelevanz bedienen, machen es einem nicht einfach. Wer als Lieblingszitat "Keine schlechte Schreibe" anführt, der kümmert sich um mehr als schlichte Melodien. Mine widersetzt sich dem Allerweltsbrei der textenden Zunft rund um den Sohnemann von Rolf Zuckowski und bringt ihre Version von deutschsprachiger Musik an ein stetig wachsendes Publikum. Ihre Alben und unzähligen Kollaborationen erscheinen folgerichtig sehr eigen, sehr unangepasst und offen für alles und viele. Da die künstlerische Vision auch eine kostspielige Angelegenheit sein kann, startete Mine eine 30.000 Euro-Crowdfunding-Kampagne, um ein einzigartiges Konzerterlebnis mit Orchester auf die Beine zu stellen. Unter zusätzlicher Beteiligung des Berliner Kneipenchors, Ansager Friedrich Liechtenstein und einiger anderer Künstler, die vornehmlich aus dem Rap-Kosmos stammen, führte die Sängerin im Frühjahr 2017 ein Programm auf, das sich gewaschen hat. Die bildgewaltige Poesie der Popakademie-Absolventin bekommt so einen angemessenen Rahmen, der nie zu gewaltig, aber auch nie zu beklemmend zu werden droht. "Live in Berlin" bietet mehr als den Konzertmitschnitt eines zufällig besser geratenen Tourstopps – mit allen erdenklichen Mitteln fährt die gesamte Entourage groß auf und weist einen möglichen Weg aus der lachend-tanzenden Trostlosigkeit der austauschbaren Deutschpoeten.

Das Pompöse steht den intimen Mine-Songs hervorragend und erhöht den Spannungsfaktor immens. Nach einer launigen Einleitung übernimmt das Stück "Anker" aus "Das Ziel ist im Weg" und hält ein Plädoyer für die ewige Unbekümmertheit. Gelungener hätte so ein Opener in Anbetracht des Folgenden kaum ausfallen können. Mit angelehntem Casper-Einstieg und Haftbefehl-Cuts springt Bartek von den Orsons der Sängerin unterstützend zur Seite und gibt den Dosenöffner für eine Armada von Rap-Kollegen. Die amtlich gefüllte Diskografie von Mine hält so einige Genre-Spielereien bereit: Ende 2017 veröffentlichte sie mit Fatoni"Alle Liebe nachträglich" und damit ein ganzes gemeinsames Album über die Unwägbarkeiten des Beziehungslebens. Der besagte Münchener MC und Schauspieler taucht während der Show dann auch direkt viermal auf und demonstriert Kostproben seines lyrischen Könnens. Der andere mit nahezu gleich vielen Beteiligungen ist der medienscheue Edgar Wasser. Mit ihm belebte Mine 2015 das fast ausgestorbene Format der Maxi-CD wieder. Auf "Aliens" packen sie große Fragen der Politik in eine griffige Metapher. Die Gastbeiträge tun sich generell oft hervor. Sie scheinen wie leichtverdauliche Oberflächlichkeiten, aber entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als schwarzhumorige Nackenklatscher. Das, was in Verbindung mit dem uneitlen Gesang so locker klingt, hat meist mehrere Böden. Auch dieser Umstand trägt zum Charme der Veranstaltung bei.

Das achtminütige "Schminke" zeigt in seiner epischen Auflage, dass viele Köche den Brei nicht zwangsläufig verderben müssen. Im Stile eines rap-typischen Mammut-Mixes liefern die Gäste abwechslungsreiche Parts. Der Song fungiert als gemeinsame Verbeugung nach einer ganz besonderen Revue. Von luftig-beschwingt über melancholisch-versunken und zurück treibt es die lebhafte Darbietung durch Huxleys Neue Welt. Der Live-Mitschnitt taugt zur Easy-Listening-Session genauso wie zur intensiveren Beschäftigung mit sich und seinen Belangen. Nicht nur aufgrund der Zusammenstellung des Ensembles wird musikalisch einiges geboten. Das total übertriebene Gitarrensolo in "Katzen" und der sanfte Chanson "Mein Freund" können hintereinander stehen, ohne sich gegenseitig auf die Füße zu steigen. Vom Cover eines Photoshop-Virtuosen sollte sich niemand abschrecken lassen. Das Endprodukt ist weitaus weniger willkürlich, als es den Anschein hat. Bunt und überladen bedeutet hier nicht zwangsläufig unsortiert. Jeder Ton, jeder Einsatz ist auf der CD-Version durchchoreografiert. Die Inszenierung wirkt wie aus einem Guss. Der Saalräumer "Raus raus raus" bietet auch zugleich wieder Aussicht auf Neues: "Schau, schau, schau, Du kannst den Himmel seh'n / Es gibt noch hunderte Berge zu versteh'n." Mine ist auf ständiger Mission.

(Michael Rubach)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Anker
  • Essig auf Zucker (feat. Ecke Prenz)
  • Alle Liebe nachträglich (feat. Fatoni)
  • Schminke (feat. Fatoni, Bartek, Ecke Prenz, Edgar Wasser, Grossstadtgeflüster, Haller, Textor & Tristan Brusch)

Tracklist

  1. Intro (feat. Friedrich Liechtenstein)
  2. Anker
  3. Wasserburgen (feat. Bartek)
  4. Essig auf Zucker (feat. Ecke Prenz)
  5. Mehr (feat. Tristan Brusch & Fatoni)
  6. Findelkind
  7. Pusteblumenfeld
  8. Hinterher (feat. Edgar Wasser)
  9. Aliens (feat. Edgar Wasser)
  10. Guter Gegner (feat. Grossstadtgeflüster)
  11. Schwer bekömmlich (feat. Bartek & Haller)
  12. Alle Liebe nachträglich (feat. Fatoni)l
  13. Ziehst Du mit (feat. Fatoni & Textor)
  14. Katzen
  15. Mein Freund
  16. Der Mond lacht
  17. Schminke (feat. Fatoni, Bartek, Ecke Prenz, Edgar Wasser, Grossstadtgeflüster, Haller, Textor & Tristan Brusch)
  18. Raus raus raus
Gesamtspielzeit: 81:01 min

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manfredson

2018-02-02 23:46:34

Absolut großartig. Es ist sehr selten, dass mich Livealben wirklich umhauen, meistens finde ich die eher verzichtbar, gerade auch die x-te "Wir machen jetzt auch mal was mit Orchester"-Nummer. Hier funktioniert es aber perfekt und die Songs wirken, als hätten sie schon immer genau so klingen müssen. Der Sound, Mines Gesang, die Features (besonders Edgar Wasser tut sich hier mehrfach hervor), die Texte und die schwer zu greifende Atmosphäre, die durch sie entsteht, die ganzen Backgroundakteure, das greift alles richtig toll ineinander.

Armin

2018-02-01 22:04:13- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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