Björk - Utopia

Embassy Of Music / Zebralution / Warner
VÖ: 24.11.2017
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Schmetterlinge im Ohr

Verständlich: Nach der emotional auslaugenden Trennung von Matthew Barney, dem resultierenden Verarbeitungswerk "Vulnicura" und der bis ins Mark gehenden folgenden Tour stand Björk der Sinn nach etwas Optimistischerem. So geschworen nach dem letzten Konzert, so umgesetzt nun auf ihrem neunten Album "Utopia". Die Isländerin sprach von ihren "Tinder-Album", was einige tatsächlich ernst nahmen. Natürlich geht es nicht um schnöde Smartphone-Wischerei oder Herumgedruckse bei Chats und Dates, vielmehr möchte Björk nach dem verschlossenen "Vulnicura" wieder aus sich herausgehen. Die Welt neu entdecken, auf Menschen zugehen. "Utopia" ist demnach nicht nur mit 72 Minuten ihre längste Platte, sondern auch mit eine ihrer reichhaltigsten, was den Einsatz von Instrumenten, Stimmen und Motiven betrifft. Wähnt man sich ob der Harfe mal bei einer durchgedrehten Version von Joanna Newsom, schaut die nächste Sekunde ein Chor vorbei, bevor Bollerbeats aus dem Baukasten des venezolanischen Tüftlers Arca einsetzen, der hier erneut als Produzent dabei ist und an einigen Stücken mitgesschrieben hat. Und haben wir schon das zwölfköpfige Flötenensemble erwähnt, das sich hier großzügig verdingt?

Man könnte daher sagen, dass "Utopia" zunächst leidenschaftlich überfordert, aber ist das nicht immer so bei Björk? Knoten wollen entwirrt werden, Rätsel geknackt. Diese fallen trotz der deutlich gelösteren Stimmung keinesfalls leichter aus. Der Opener "Arisen my senses" kann gar nicht an sich halten vor lauter Tatendrang, Synthies malen Himmel und Wellen, der Raum dazwischen wird von den Flöten und der Beat-Percussion gefüllt. Wie ein Mantra schaukelt der Song sich in die Höhe, bevor er vom folgenden, sanften "Blissing me" aufgefangen wird. Die erste Single "The gate" bezeichnete Björk als Verbindungsstück zu "Vulnicura", was angesichts der zurückhaltenden Stimmung und der komplexen Anlage sinnvoll erscheint. Vor allem schließt jedoch "Body memory" den Kreis zur Vergangenheit. Der knapp zehn Minuten zwischen Lethargie und Energie pendelnde Song erinnert nicht nur vom Titel her an "History of touches", sondern spiegelt in den Klangfarben von "Utopia" das ebenso ausufernde "Black lake" wider. Bloß, dass nicht die Resignation gewinnt. "I trust the unknown", singt Björk, und man wundert sich, wie das Gebilde so stimmig zusammenhält.

Die Verschmelzung von Synthetischem und Organischem zieht sich seit der grandiosen Melange von "Homogenic" durch Björks Œuvre. "Utopia" fügt diesem Prinzip eine neue Facette hinzu. Die hellen Klangfarben werden von Flöten, Streichern und ihrer immer noch unverwechselbaren Stimme geprägt sowie Naturgeräuschen wie beispielsweise in Island aufgenommenem Vogelgezwitscher, welches sich durch mehrere Stücke zieht. Für die Ornitologen unter den Lesern: Es handelt sich dabei um Prachttaucher. Darunter liegen vorwiegend die im Laptop geborenen basslastigen Beats, die den Rahmen für solch wahnsinnig dynamische Stücke wie das zentrale, gewaltige "Losss" geben. Wild zischen und fiepen die Elemente durcheinander, der Rhythmus wird hektischer, bis sich der Song nach seiner Eruption in ein Meer aus Flöten ergießt. Auch das vorangehende "Courtship" zeigt eine ähnliche Entwicklung, legt gefühlt mehrere Songs übereinander, die sich zunehmend fester miteinander verzahnen.

Die Tinder-App mag auf dem Album kein Thema sein, dennoch schiebt Björk in die paradiesische Atmosphäre kleine moderne Brüche ein. "Sending each other MP3s / Falling in love with a song" – eine so konkrete Beschreibung des kreativen Austauschs mit ihrem Seelenverwandten Arca kommt unvermittelt. Ebenso wie das programmatische "Features creatures", das sich formlos schwebend die bessere Hälfte erspinnt: "Shuffling your features / Assembling a man / Googling love." Deutlich abstrakter, trotzdem aussagekräftig ist das von eingängiger Stimmmanipulation geprägte "Sue me", was exemplarisch für den Neuanfang steht, den Björk für sich setzen musste. "I want to denounce our origin / [...] / Let's break this curse / So it won't follow our daughters." Der Faden wird in "Tabula rasa" weitergesponnen: "Break the chain of the fuck-ups of our fathers."

"Utopia" ist in jeder Hinsicht überwältigend: faszinierend, aber eben auch fordernd. Man sollte in der Stimmung für eine ordentliche esoterische Reizüberflutung sein und zudem keine Abneigung gegen die großzügig eingesetzten Flöten haben – nicht umsonst hält auf dem Cover eine grotesk maskierte Frau Guðmundsdóttir eine solche in der Hand. Wenn die Platte mit "Saint" und "Future forever" immerhin versöhnlich und sogar zugänglich endet, darf man sich durchaus verdient den Schweiß von der Stirn wischen. Vermutlich war das auch die Absicht – neugefundene Lebensenergie lässt sich schließlich nicht immer angemessen dosieren und "Utopia" ist ein übersprudelnder Quell davon. Ein Album voller kindlicher Begeisterung, voller Liebe und Freude an den Wundern, die des Weges kommen. Und selbstverständlich das Zeugnis einer Künstlerin, die mal wieder kompromisslos das erreicht hat, was sie vorhatte zu erschaffen.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Arisen my senses
  • Courtship
  • Losss
  • Sue me
  • Claimstaker

Tracklist

  1. Arisen my senses
  2. Blissing me
  3. The gate
  4. Utopia
  5. Body memory
  6. Features creatures
  7. Courtship
  8. Losss
  9. Sue me
  10. Tabula rasa
  11. Claimstaker
  12. Paradisia
  13. Saint
  14. Future forever
Gesamtspielzeit: 71:46 min

Im Forum kommentieren

Felix H

2023-11-26 09:39:51

Hatte es ein paar Tage vorm Konzert gehört und fand es auch immer noch toll. Aber ist eben auch stimmungsabhängig, das Ding fordert schon.

boneless

2023-11-26 00:31:07

Spannende Auswirkung des Konzerts. Dort fand ich die Utopia Songs ja recht anstrengend, aber jetzt zieht mich das Album doch ganz schön an. Diese seltsam jenseitige Atmosphäre ist bezaubernd, auch wenn die Flöten in der Tat hier und da schon... naja, halt flötige Sachen machen. :D

kingsuede

2019-08-18 14:01:03

Ich empöre mich mal mit, finde aber, dass Utopia das stärkste Björk-Album dieses Jahrzehnts ist, vor allem weil der Auftakttrilog mit Arisen my senses, Blissing me und The Gate so groß ist.

MopedTobias (Marvin)

2019-08-18 13:47:52

Überhaupt keinen Kunstbegriff zu haben, dass (sic!) weist der Björkhater empört von sich.

Ressuar

2019-08-18 12:19:10

Gejammer und Geheule als "Kunst" gekauft zu haben, dass weist der Björkversteher empört von sich.

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