Sgrow - Circumstance

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VÖ: 10.11.2017
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Es lebt

Über die Frage, was Realität ist, streiten sich Philosophen und Naturwissenschaftler schon eine Weile. Ob man diese überhaupt beantworten kann, ist offen. Das Häuten der Zwiebel hat bis dato zu immer neuen Mysterien geführt. "We need to go deeper", würde Dom Cobb jetzt vorschlagen. Für die Kunst gestaltet sich die Suche nach dem Sein als noch schwierigeres Unterfangen. Was für die einen die Nachahmung ist, ist für andere der Blick nach innen. Das menschliche Bewusstsein ist ein unzuverlässiger Zeitgenosse. Es trickst und täuscht sich selbst, weil es gar nicht anders kann. Wenn die Gedanken sich verselbstständigen, wenn die Kategorien verschwimmen, beginnt das, was gemeinhin als "Fühlen" bezeichnet wird. Was weniger romantische Zeitgenossen als neurophysiologische Prozesse bezeichnen, sind jene Geisteszustände, die das Menschsein unmittelbar machen.

Was das alles mit dem norwegischen Electronica-Duo Sgrow zu tun hat, ist zum Glück einfach zu erklären: Der Instrumentalist Kristoffer Lislegaard und die Sängerin Vilde Nupen machen Musik, die bis ins Mark trifft. Ihr Ansatz ist ebenso fundamental wie die eingangs geschilderten Überlegungen. Songschemata liefern dabei nur grobe Anhaltspunkte. Ihr zweites Album "Circumstance" gerät gerade deshalb zu einer einzigartigen Erfahrung. Für eine knappe halbe Stunde nehmen die Künstler den Hörer gefangen und entlassen ihn als veränderten Menschen. Die Tiefe der Kompositionen ist atemberaubend. Sgrow verfahren ähnlich wie Burial oder Four Tet: Sie beginnen mit einer relativ simplen Melodie oder einem klar definierten Rhythmus und lassen danach der Intuition freien Lauf. Damit komplexe elektronische Musik derart fließend klingt, ist allerdings Arbeit nötig. Verdammt viel Arbeit.

Eher konventionelle Tracks wie "Is anywhere where they want to be?" oder "Waves" fungieren als notwendige Orientierungspunkte, um nicht gänzlich den Halt zu verlieren. Denn wenn Sgrow loslassen, dann richtig. "Daeva" ist beispielsweise eine fünfminütige Achterbahnfahrt zwischen Wachtraum und Fieberwahn — wogende Synthies und schlingernde Beatfetzen ringen um die Vorherrschaft, während Nupens Stimme dem Nichts entgegentaumelt. Nupen ist es auch, die das sich sukzessive zerlegende "Feel something" zusammenhält. Den feinen Breakbeat, der im Schlusspart des Tracks aus den Lautsprechern stolpert, hätte auch ein Richard D. James nicht abgedrehter hinbekommen. Ähnlich wie James ist Lislegaard kein herzloser Frickler, sondern ein melodiebesessener Enthusiast, der es genießt, Momente purer Schönheit per Hackschnitzelverfahren ihrem Schicksal zuzuführen.

Besonders eindrücklich geraten jene Parts, in denen die Musik völlig unerwartete Wendungen nimmt. "Kismet" wabert lange vor sich hin, bevor sich der Himmel verdunkelt. Ein pulsierender Achtelnoten-Rhythmus schiebt sich unter die immer fransiger werdenden Klangteppiche. "An electric pulse is shot through my heart", haucht Nupen, während der Bass die Eingeweide umdreht. Klaustrophobie und Euphorie schreiten Hand in Hand der Katharsis entgegen. Sgrow sehen nicht mit den Augen, sondern mit ihrem Verstand. "Mind's eye" bringt folgerichtig den Stil des Duos auf den Punkt: Wieder umgarnen einander sich widersprechende Sounds, wieder muss die Vokalistin darum kämpfen, sich im Dickicht der Klänge Gehör zu verschaffen. Und wieder kulminiert der Track in einem Moment, in dem sich alle Anspannung in blanke Genugtuung auflöst. Die Kategorien verschwimmen. Die Gedanken verselbstständigen sich. Es lebt.

(Christopher Sennfelder)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Feel something
  • Kismet
  • Daeva

Tracklist

  1. Is anyone where they want to be?
  2. Feel something
  3. Kismet
  4. Daeva
  5. Young love // Raw emotion
  6. Waves
  7. Mind's eye
Gesamtspielzeit: 28:11 min

Im Forum kommentieren

molch5

2017-11-22 09:28:30

langweilig.

3w

2017-11-16 12:41:53

klingt sehr interessant, da wird reingehört bei gelegenheit!

Armin

2017-11-15 21:28:26- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

"Album der Woche"!

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