Visionist - Value
Big Dada / GoodToGoVÖ: 20.10.2017
Tut's weh?
Kommt ein Mann zum Arzt. Nein, nicht weil er Visionen hat. Sondern Zahnschmerzen. Eine nicht ganz abwegige Assoziation beim zweiten Album von Louis Carnell alias Visionist. Das rückt dem Hörer nämlich zu Beginn mit so aggressiv kreischenden Bohrgeräuschen auf die Pelle, dass dieser gleich nervös nach seinem Bonusheft kramen will. Gehör zu verschaffen wusste sich der Südlondoner bereits auf seinem 2015er-Debüt "Safe", das jedoch mitnichten in Sicherheit wog: Zu unstet und verwunschen wirkte das Mit-, Gegen- und Durcheinander aus geisterhaft gepitchten Soul-Stimmen, digitalen Schlaufen und zerklüfteten Grime-Rudimenten. Machte Carnell seinerzeit visuell aber noch einen ähnlich entrückten, wenn auch weniger androgynen Eindruck als Kollege Arca, lässt das Artwork von "Value" keinen Zweifel: Der Mann ist ein, äh, Mann.
Und ein stilbewusster dazu, der regelmäßig für renommierte Fashion-Fotografen posiert, die Modestrecken diverser Magazine vollmacht und in Interviews Designer empfiehlt. Doch es geht offensichtlich auch ganz ohne Klamotte – und auch musikalisch macht sich der Brite hier oft nackt, hantiert aber genauso ausgiebig mit der ganz groben Kelle. Kaum ist die Wurzelbehandlung aus dem unsanften Intro "Self-" verdaut, legt "New obsession" nämlich gewaltig nach, lässt industrielles Geknirsche und splitternde Maschinenschläge krachend aneinander zerschellen und loopt am Ende einen zerlegten Dudelsack in das organisierte Chaos aus nahezu entmenschten Power-Electronics. Und plötzlich sind die Schwarzlicht-Clubs, wo Imminent Starvation, Vromb oder Hecq zum zuckenden Stahltanz laden, direkt nebenan.
Acts, von denen Carnell unter Umständen noch nie gehört hat – was ihn jedoch nicht daran hindert, mit der gleichen Kompromisslosigkeit zu Werke zu gehen. Und vereint das Titelstück atonales Gecrunche mit Glitzerflächen und Vocal-Lichtblitzen, sind die Spannungspole von "Value" abgesteckt: präzise Knochenhärte hier, einsame Pianotropfen dort, verhuscht morphende Soundscapes überall. Vor allem im Rhythmisches komplett aussparenden "Your approval", wo die erhabene Stimme von Sängerin Rolynne zwischen glühenden Sampling-Schwaden hervorlugt und sich die gekippte Stimmung jeden Moment in einem schweren emotionalen Wolkenbruch zu entladen droht. Es gehört fast schon zum guten Ton, dass der delikate elektronische Torch-Song direkt im Anschluss vom Dampframmen-Auftakt der Dubstep-Verwilderung "No idols" in Stücke gerissen wird.
Und ist hier von Dubstep die Rede, dann höchstens im Sinne des ebenfalls tief in den Kellern der "South London boroughs" operierenden William Bevan, der mit Burial zuletzt eher spukig knisternde Ambient-Brachen wie "Nightmarket" entwarf. Zwar fasst sich "Value" bedeutend kürzer, bringt aber auch in wenig mehr als einer halben Stunde so viele wallende Synthie-Arpeggios, ausgebüxte Klingeltöne und über kalten Steinboden schleifendes Metall unter, dass auch die in höhere Sphären abdriftende Selbstermächtigung "Homme" oder die wie aus einem Blecheimer widerhallende Etüde "High life" ganz ohne Beats auskommen. Da kann Carnell auf allen kunstvoll in Szene gesetzten Porträts noch so proper aussehen – sein Album bleibt ein gleichermaßen anziehendes wie abstoßendes Biest, das der Clubmusik sämtliche Beißerchen zieht. Tut weh, tut gut.
Highlights & Tracklist
Highlights
- New obsession
- Homme
- Your approval
- No idols
Tracklist
- Self-
- New obsession
- Homme
- Value
- Your approval
- No idols
- Made in hope
- High life
- Exi(s)t
- Invanity
Im Forum kommentieren
Armin
2017-11-08 21:40:44- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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