Shamir - Revelations

Father/Daughter / H'Art
VÖ: 03.11.2017
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Wahre Dein Gesicht

Um eine Aussage über den künstlerischen und möglicherweise emotionalen Zustand Shamir Baileys zu treffen, reicht eigentlich schon ein Blick auf seine Albumcover. So war das hippe, gezeichnete Schwarzweißbild seines Debüts "Ratchet" die perfekte Visualisierung für den unbeschwerten Disco-Indie-Pop des damals 20-jährigen. Doch die Leichtigkeit währte nur kurz. Nach kreativen Differenzen von seinem Label fallengelassen veröffentlichte Bailey sein zweites Album "Hope" kurzerhand selbst und schlug sich für das dazugehörige Coverfoto die Hände vors Gesicht – die dahinter verborgene Emotion war genauso wenig greifbar wie die Musik auf diesem unfokussierten, konfusen Durcheinander. Gerade einmal ein halbes Jahr später folgt nun "Revelations" und wieder einmal greifen Ton, Text und Bild wunderbar ineinander. Baileys Augen und Mund sind von einer Hautschicht überzogen und symbolisieren die Abschottung von einer Außenwelt, die ihm, sei es durch den Versuch der Mundtotmachung seitens der Musikindustrie oder den medialen und sozialen Druck gegenüber einem schwarzen, schwulen Künstler, solche mentalen Schäden zugefügt hat, dass diese sogar in einem kurzen Psychiatrie-Aufenthalt endeten.

Als Konsequenz präsentiert er die totale Abkehr nach innen und sein bis dato intimstes, introvertiertestes Werk. Die Party von "Ratchet" ist schon lange vorbei, Shamir hockt alleine im Schlafzimmer seines Las-Vegas-Apartments, doch wer ihm jetzt noch zuhört, wird ihn besser kennenlernen können als jeder andere. Musikalisch bleibt Shamir zwar dem Pop treu, doch auch hier zeigt er sich merklich minimalistischer und zurückgezogener als früher. Der Disco-Glanz ist komplett verschwunden, stattdessen fußen die meisten Songs auf kaum mehr als einer Fuzz-Gitarre und einem Drumbeat, sowie gelegentlichen elektronischen Ausflügen. "Games" besteht nur aus einer zunächst fröhlichen, immer wieder düsterer werdenden Keyboardmelodie und einem noch immer einzigartigem Falsettgesang, der hier so roh und ungeschönt klingt wie noch nie. Thematisch klagt er mit Zeilen wie "I don't have much to offer you / But my soul, my heart and everything I've been through / But you just see the green" die Kommerzialisierung von Kunst an, nur um sich selbst direkt wieder zu relativieren: "But I don't blame you / And I won't shame you / But I just can't continue to play this game." Shamir richtet seinen Frust nicht gegen Einzelpersonen, sondern begreift ihr Handeln als Auswüchse eines zugrundeliegenden systematischen Spiels, wobei "Revelations" aber mitnichten ein angriffslustiger Aufruf zum Protest, sondern vielmehr der erschöpfte persönliche Wunsch nach einer Freiheit davon ist.

So hätte "You have a song" anders inszeniert zu einer modernen Grunge-Hymne werden können, doch Shamirs Selbstzweifel rücken die mächtige Gitarre in den Hintergrund: "Don't think you're special 'cause it's about you." In "90's kids" konzentriert er die Ängste und mentalen Probleme der sogenannten Millenials, sowie die Ignoranz der älteren Generationen gegenüber diesen in einem wundervoll melancholischen Piano-Hit, während sich "Straight boy" den heuchlerischen Umgang der Medien mit queeren Künstlern vor die Brust nimmt. Damit "Revelations" trotz der immer kohärenten Lo-fi-Ästhetik auch musikalisch nie eintönig wird, variiert Shamir zudem immer wieder das Tempo und gibt seinem Album einen ungemein dynamischen Fluss. Am deutlichsten zeigt sich das im Doppel von "Blooming" und "Cloudy", bei dem der 23-Jährige auf ein verspieltes, flottes Jangle-Pop-Stück eine herzzerreißende Ballade folgen lässt. Und wenn er in Letzterem "We gotta learn to love ourselves" singt, besteht die Hoffnung, dass er aller Widrigkeiten zum Trotz sein Selbstbewusstsein zurückerlangt und im neuen Klanggewand zu sich selbst gefunden hat – vollkommen verständlich, da die neue Reduziertheit seine großen Stärken, das Gespür für fantastische Melodien, die schmerzhaft ehrliche, ihre Gesellschaftskritik nie zu plump vortragende Lyrik, sowie sein unglaublich ausdrucksstarkes Stimmorgan, so sehr zu Geltung bringt wie noch nie. Vielleicht fühlt sich Shamir mit dem neuen Sound ja jetzt auch wohl genug, um uns auf dem Cover seines nächsten Albums mit einem breiten Grinsen in Empfang zu nehmen.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Games
  • 90's kids
  • Cloudy

Tracklist

  1. Games
  2. You have a song
  3. 90's kids
  4. Her story
  5. Blooming
  6. Cloudy
  7. Float
  8. Astral plane
  9. Straight boy
Gesamtspielzeit: 31:25 min

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Armin

2017-11-08 21:40:14- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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