Andreas Spechtl - Thinking about tomorrow, and how to build it
Bureau B / IndigoVÖ: 10.11.2017
Er hat an der Uhr gedreht
Er wünschte sich dahin zurück, wo es nach vorne geht, hat auf "Back to the future" die Uhr gedreht: Andreas Spechtl, im sonstigen Leben Frontmann der sehr relevanten und sehr guten Band Ja, Panik, beschäftigt sich liebend gerne mit dem Phänomen Zeit. Schon auf der letzten Platte seiner Hauptband, dem Meisterwerk "Libertatia", zeigte sich der in Berlin lebende Österreicher an den verrinnenden Sekunden, Minuten und Stunden interessiert und auch mit seinem Nebenprojekt Sleep nahm er sich ebenjener Thematik an. Nun tut er dies mit "Thinking about tomorrow, and how to build it" erneut, das erste Mal unter seinem Klarnamen. Sonst bleibt alles unklar, rätselhaft, bezugsoffen und verwirrend. Juhu.
Für seine Platte bastelte der Musiker nämlich eine verstörende Mixtur zusammen, die wenig bis gar nichts mit Ja, Panik zu schaffen hat: Jazz-Fetzen schießen quer durch richtungslose Electronica-Collagen, Stimmen irren im dornigen Beat-Dickicht umher, Uhren beginnen zu zerlaufen wie bei Salvador Dalí. Einen Boden hat man hier nicht unter den Füßen, alles ist im Fluss, alles ist aus Treibsand. Spannend sind solche Experimente natürlich allemal, Freude bereiten sie wohl vor allem dem Künstler selbst. Als Hörer kann man sich in dieser mehr oder minder assoziativen Traumlandschaft nirgendwo festhalten, vielmehr muss man den Kopfsprung ins Ungewisse wagen. Also hopp ...
... und rein: Der Einstieg könnte jedoch kaum sperriger sein, erlaubt es Spechtl seinem Opener "2016" doch rhythmus- und melodiebefreit durch den Äther zu vibrieren, ohne eine klare Richtung zu definieren. Und auch das folgende "Future memories" hält nicht viel von althergebrachten Songstrukturen, Beats fliegen auf Pogosticks reitend durch die Gegend, Spechtls bruchstückhafte Lyrics mischen sich unter, kaum wahrnehmbar und doch mittendrin in diesem knallbunten Allerlei. Selten gelingen ihm dabei Momente besonderer Schönheit, "The age of ghost" jedoch vermag in seinen sechs Minuten zu verzaubern, wenn sich aus einer kalten Techno-Kulisse nach und nach ein atmosphärisch dichter Klagegesang herausschält, der mit unserer Gegenwart hart ins Gericht geht: "In all places, at all times / The future will collide in our eyes / In all places, at all times / The age of ghost, a post-European dream."
Auch "Africa Blvd" gehört zu den gelungenen Nummern, die beweisen, dass Spechtl hier nicht nur wilde Loops aneinanderreiht, sondern auch einen größeren Zusammenhang im Hinterkopf hat: Langsam klopft der Song los, baut sich auf, verquere Bläser setzen ein, die Lyrics erklingen als Mantra. Spechtl erzählt von den Irrungen und Wirrungen unserer Zeit, von Richtungslosigkeit und Verantwortungen, denen man sich stellen muss. Nicht immer jedoch steht dieses Konzept im Vordergrund, zu oft verliert sich der Musiker im künstlichen Rausch. Die Zeit rinnt ihm dabei durch seine Finger wie heißer Wüstensand. Der Boden wird bröckelig, bricht langsam ein. Wer hilft ihm noch rechtzeitig aus seinem eigenen Labyrinth?
Highlights & Tracklist
Highlights
- Africa Blvd
- The age of ghost
Tracklist
- 2016
- Future memories
- Tmrrw
- Interlude 1 (Of sound mind)
- Things
- Africa Blvd
- Interlude 2 (Loops of wisdom)
- The age of ghost
- The institute
- Hidden homes
Im Forum kommentieren
Can
2017-11-03 00:47:50
Kann die Wertung nicht wirklich nachvollziehen. Hab nicht viel von der Platte erwartete, aber sie hat mich total weggeblasen. Gehört definitiv in die Top 5 für 2017.
Armin
2017-09-18 17:58:37- Newsbeitrag
ANDREAS SPECHTL
"Thinking about tomorrow, and how to build it" (CD/LP/DL)
VÖ 10.11.2017
Sehr geehrte Damen und Herren,
auf Bureau B steht wieder einmal eine äußerst spannende Veröffentlichung an: Wir freuen uns sehr, dass Andreas Spechtls neues Album "Thinking about tomorrow, and how to build it" am 10. November 2017 bei uns erscheinen wird.
Komponiert hat Andreas Spechtl das Album in der 12-Millionen-Metropole Teheran, Hauptstadt des Iran.
Wir hören: traditionelle persische Perkussions- und Saiteninstrumente, deren Klänge von ihm gesampelt, neu zusammengesetzt und mit zeitgenössischen Beats, Filtern und Effekten bearbeitet wurden.
Entstanden sind auf diese Weise räumlich ebenso komplexe wie faszinierend-verwirrende Klanggebäude, deren gleichmütiger Rhythmus gleichwohl vertraut erscheint und der Grund dafür ist, weshalb diese Musik so leicht an Narrationen aus der jüngeren elektronischen Musik anzuknüpfen weiß.
Andreas Spechtl verbrachte zwei Monate im Winter 2016/17 in Teheran und gab insgesamt zehn Konzerte in seinem dortigen Studio.
Im Winter fällt das Thermometer in der Stadt auf bis minus 10° Celsius. Auch schneit es. Durch den dichten Verkehr bewegt man sich mit dem Taxi. Von Privatwohnung zu Privatwohnung, denn in Teheran wird der private Raum zum öffentlichen Raum, während der öffentliche Raum schnellstmöglich überwunden wird: „Hidden Homes“.
In seinen Moskauer Tagebüchern schrieb Walter Benjamin, dass man die Heimat in der Ferne klarer zu sehen lernt. Diese einfache Feststellung kann man wie eine Matrix auf Andreas Spechtls Platte legen. Indem er über das Andere reflektiere, reflektiert er über sich selbst; indem er über Teheran grübelt, denkt er über Berlin nach, über das Eigene in der Fremde. Seine Platte wurde im Ergebnis zu einem Spiegel der Gewissheit, dass wir vor der Zukunft keine Angst zu haben brauchen — die Zukunft und die Utopie und eben nicht The Angst and ... sind Zentralmotive der zehn neuen Songs, und Titel wie „TMRRW“, oder „Future Memories“ formulieren es. In Teheran haben die Menschen keine Angst vor der Zukunft. Sie wissen, dass alles nur besser werden kann. Bis dahin feiern sie und sind kreativ hinter verschlossenen Türen. Und Andreas Spechtl tat es ihnen gleich.
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