The Hirsch Effekt - Eskapist

Long Branch / SPV
VÖ: 18.08.2017
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Sorgen gebrochen

Mit ihrer "Holon"-Trilogie haben The Hirsch Effekt die vergangenen Jahre über etwas Großartiges geschaffen. Man darf das ruhig so sagen: Das norddeutsche Power-Trio hat die Grenzen dessen, was im Metal möglich ist, um ein gewaltiges Stück verschoben. Das Verhältnis von Krach und Kunst wird nie wieder dasselbe sein. Mit dreimal 8 Punkten in Folge, hat auch Plattentests.de die Band in ihrem Schaffen bisher bestätigt. Jetzt also Album Nummer vier, ganz ohne "Holon" im Titel. Ein Neuanfang sozusagen. Soviel vorweg: "Eskapist" ist nicht unbedingt der logische Nachfolger geworden, mit dem man gerechnet hat. Die Entwicklung, welche man auf den drei vorangegangenen Werken mitverfolgen konnte, hätte auch in einem unüberschaubaren Gemetzel gipfeln können. Ist sie aber nicht, im Gegenteil: Auf "Eskapist" nimmt sich die Band sogar ein kleines bisschen zurück. Textlich sowie musikalisch wirkt dieses Werk klarer, definierter und direkter als zumindest sein unmittelbarer Vorgänger. Aber keine Sorge: Das heißt nicht, dass das wilde Trio weich geworden ist.

Der erste Unterschied zu den vorausgegangenen Alben schießt sofort ins Ohr: Bemühen sich die Vorgänger allesamt um einen stimmungsvollen Aufbau der Szenerie, gibt "Eskapist" sofort Vollgas und peitscht den Hörer ohne Gnade durch ein Labyrinth aus Geschrei, unvorhersehbaren Riffs und krummen Takten. "Ist dies hier wirklich kein Traum? / Wann wachen wir endlich auf?", singt Nils Wittrock im eröffnenden "Lifnej" nach der äußerst sperrigen Strophe, bevor eine wunderbar melodische und kraftvolle Hook den Track aus dem Irrgarten der ersten Songhälfte liftet. Es folgen ein dramatischer C-Teil im Djent-Stil und eine Bridge, die nicht mehr als eine Akustikgitarre und ein Glockenspiel benötigt, bevor eine vom Hall getragene Post-Rock-Gitarre wieder zur Hook führt, die in ihrer Wiederholung, mit einer melodischen Solo-Gitarre untermalt, ihre Flügel so weit ausbreitet, dass sie die anfängliche Schwere des Songs vergessen macht – Wahnsinn!

Der Titel des zweiten Songs, "Xenophotopia", ist der erste Hinweis auf ein Element der Platte, das auf bisherigen Alben der Gruppe etwas stiefmütterlicher und gerne mit einer gewissen ironischen Distanz behandelt wurde: Politik und Weltgeschehen. Der Albumtitel bezieht sich eben nicht nur auf den Eskapismus, den man geistlich vollzieht, sondern eben auch auf die reale Flucht vor Krieg und Zerstörung. Ein Thema, das traurigerweise wohl noch lange aktuell sein wird. Textlich gewohnt kryptisch, thematisieren The Hirsch Effekt besonders im genannten Titel wie auch in "Aldebaran" die Wohlstandsgesellschaft, die sich vor dem Fremden fürchtet, sich in Verschwörungstheorien flüchtet und, wie im wunderbar ironischen Radiospot, welcher "Lysios" unterbricht, vorgeschlagen wird, sich volltrunken Gedanken um die ach so großen Gefahren in diesem Land macht: Die Burka, den Veggie-Day und die Homo-Ehe. Aber auch die inneren Konflikte die Wittrock seit jeher zu quälen scheinen, kommen nicht zu kurz: Zerbrochene Beziehungen, das Verhältnis zur Kunst und die eigene Entfremdung, aber eben auch Flucht von, beziehungsweise aus dieser Welt. Themen, die man als aufmerksamer Hörer der Band bereits durchgekaut hat, die auf "Eskapist" aber erneut aufgetischt werden. Glücklicherweise ist festzuhalten, dass auch solch bekannter Stoff nicht einfach aufgewärmt wird, sondern im Kontext des Albums wieder genauso frisch und clever eingebunden daherkommt, wie man es von The Hirsch Effekt gewohnt ist.

Zurück zur Musik: Dort legen die Hannoveraner kaum mal eine Verschnaufpause ein. Nach dem krachenden Opener ballert "Xenophotopia" da weiter, wo "Lifnej" aufgehört hat. Unterbrochen wird der Song allerdings von einem der seltsamsten Zwischenteile der Bandgeschichte. Die Verwirrung hierüber bläst Wittrock mit einem, für die Verhältnisse der Gruppe, sehr klassischen Metalsolo vom Tisch. "Natans" kommt mit seiner tänzelnden Strophe und Orchestrierung, genauso wie das härtere, aber leicht greifbare "Inukshuk", wohl am nächsten an das heran, was man als Popsong bezeichnen könnte. "Tardigrada" und "Aldebaran" beweisen danach wieder, dass hier eigentlich eine Metalband zu Werke ist und lassen die tiefen Töne sprechen. Spätestens an diesem Punkt des Albums hat man zwangsläufig bemerkt, dass das heimliche vierte Bandmitglied, der Sampler, auf "Eskapist" deutlich seltener zum Einsatz kommt als bisher. Ganz ohne kommt das Album nicht aus, trotzdem überraschen jetzt an Stellen, an denen man als Kenner der Band Streicher erwartet hatte, eher Chöre, oder die Gitarre spielt in ihrer blanken Gewalt einfach durchgängig die Hauptrolle. Des Weiteren fällt auf, dass Bassist Ilja John Lappin, der auf diesem Album erstmalig auch einen Teil der Texte zu verantworten hat, öfter am Mikrofon eingebunden wird. Hierbei ist er zum größten Teil für Growls und aufgeregtere Passagen zuständig, während Wittrock wie bisher für den melodischem Klargesang herhält. Der vorletzte Song, das viertelstündige "Lysios", bringt das Album noch einmal auf den Punkt: Harte Riffs, knochentrockene, irre Beats, viel Gegrunze, absolut waghalsige Ausbrüche aus dem Songschema, schräge Melodien, Bläser und noch viel mehr – The Hirsch Effekt in Reinkultur sozusagen.

Diese Ambivalenz, das ständige hin und her, die unvorhersehbare dynamische Entwicklung ihrer Musik ist man von dieser Band bereits gewohnt. "Eskapist" macht darauf bezogen nicht viel anders als seine Vorgänger, trotzdem ist in fast allen Stücken das stilistische Zentrum klarer definiert. Dass The Hirsch Effekt eigentlich keine Stilgrenzen kennen, ist zwar bekannt, trotzdem gibt sich die Musik des Trios auf diesem Album, trotz aller Eskapaden, weitaus deutlicher als Metal zu erkennen, als das in der Vergangenheit der Fall war. Ist eine Musik derart geschwängert von unterschiedlichen Einflüssen, dass niemand mehr im Detail auseinanderklamüsern kann, was eigentlich alles in ihr zusammenkommt, wird gerne der schwammige Begriffe Artcore bemüht. Nicht selten hört man diesen Begriff, wenn es um die Beschreibung des klanglichen Outputs von The Hirsch Effekt geht. Mit "Eskapist" machen es die Hannoveraner kategorisierungswütigen Hörern um einiges einfacher als zuvor. Klar, auch dieses Album schielt in alle Richtungen, liebäugelt mit so ziemlich jeder Musik die auf sechs Saiten möglich oder unmöglich ist, aber dieses Mal umkreist der Planet Hirsch Effekt seinen Mutterstern Metal in einer deutlich engeren Umlaufbahn.

(Christopher Padraig ó Murchadha)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Lifnej
  • Natans
  • Berceuse
  • Inukshuk
  • Lysios

Tracklist

  1. Lifnej
  2. Xenophotopia
  3. Natans
  4. Coda
  5. Berceuse
  6. Tardigrada
  7. Nocturne
  8. Aldebaran
  9. Inukshuk
  10. Autio
  11. Lysios
  12. Archrej
Gesamtspielzeit: 61:21 min

Im Forum kommentieren

The MACHINA of God

2023-10-04 15:43:38

Und wieso ist das hier eigetlich im "Eskapist"-Thread? Wäre das im "Urian"-Thread nicht viel passender?

The MACHINA of God

2023-10-04 15:09:50

Ich glaub man sollte sich da nochmal die Übersichten der einzelnen Alben anschauen. Ist halt die Frage, ab wann "Härte" eintritt. Wie verhält es sich bei Songs wie "Kris" oder auch "Agera", wieviel von denen z.B. als Härte zählt. Dass "Kollaps" 10% mehr harte Stellen haben soll als "Eskapist" kann ich mir quasi nciht vorstellen (also unter meiner Definition von Härte).

Oceantoolhead

2023-10-04 13:44:13

Interessant, ich habe Kollaps tatsächlich als ihr sanftestes Album in Erinnerung, aber auch schon länger nicht mehr gehört. Gefolgt von Hiberno und Anamnesis. Agnosie und Eskapist hätte ich jetzt auf die ersten beiden Plätze getippt. Aber die Dynamik zwischen ruhig und weich haben die Band eh schon immer ausgemacht. Die neue mag ich noch gar nicht beurteilen, die Vorabtracks hatten mir so erstmal nicht viel gegeben, das Gesamtalbum macht nach 2 Durchgängen aber einen guten Eindruck.

hexed all

2023-10-04 12:56:32

Härte-Update:

Urian - 1232/3132 39%
01. Agora 0
02. Otus 2:43-3:30 4:37-4:54 6:50-7:49 9:11-9:37 149
03. 2054* 2:40-4:44 443-124=319
04. Urian* 6:10-7:28 448-78=370
05. Stegodon 0
06. Granica 4:12-6:30 78
07. Blud* 3:40-4:40 376-60=316
08. Eristys 0

1. Kollaps: 60%
2. Eskapist: 50%
3. Urian: 39%
4. Hiberno: 38.4%
5. Agnosie: 38.2%
6. Anamnesis: 24%

Höher als erwartet

The MACHINA of God

2021-03-29 16:23:08

Für mich bleibt "Holon: Anamnesis" ihre wichtigste. Hab ich in der 2010er-Liste auch auf Platz 1 gesetzt. Das war so wichtig und hat mir dem Mittelteil von "Agitation" bis "Mara" die wohl beste halbe Stunde der letzten Jahre.

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