Ben Lukas Boysen & Sebastian Plano - Everything

Erased Tapes / Indigo
VÖ: 28.07.2017
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 4/10
4/10

Vom Universum zum Game zur Musik

In seinen Vorlesungen an der Harvard-Universität im Herbst 1985 schlug sich der italienische Schriftsteller Italo Calvino auf die Seite der Leichtigkeit in der Kunst – freilich ohne dabei die Schwere abzuwerten. Während jedoch Calvino seine Barone auf Bäume schickte und unsichtbare Städte in die Höhe schraubte, sodass an seiner Zugehörigkeit gar kein Zweifel bestand, liegt die Sache bei den beiden Komponisten Ben Lukas Boysen und Sebastian Plano genau anders. Boysen verpasste einem seiner Alben den Titel "Gravity", Planos letzte Platte "Impetus" zeigte auf dem Cover jenen Moment, in dem aus Springen Fallen wird. Die Richtung dürfte damit klar sein. Hier gibt es Bedeutung! Ausgangspunkt dafür: "Everything", ein Computerspiel. Denn das gemeinsame Album des deutschen Musikers Boysen und des argentinischen Komponisten Plano ist ein Ausschnitt aus der vierstündigen Klanglandschaft, die sie für jenes Spiel entwickelt haben. Darin kann der Spieler alles sein, was er will: Mikrobe, Baum, Stern, Käfer oder Bär. Eine grenzenlose Welt tut sich auf, während dazu der Philosoph und Dozent Alan Watts ein paar seiner Gedanken erzählt.

Allerdings funktioniert "Everything" ebenso als eigenständiges Album ohne diesen Kontext. Denn selbst ohne pixelige Lebewesen öffnen Boysen und Plano mit den zehn Stücken einen Einblick in das Wirken des Universums. Mit Streichern, Piano und elektronischen Spuren hängen sie selbst durch zerbrechliche Melodien ihren eigenen Gedanken zum Sein nach. Auf "Everything" vermischen sie vor allem moderne Klassik mit Elektronik, Kammermusik und Ambient. Jeder Moment, jeder Ton besteht nur aus hauchzarten Nuancen. Kein Rhythmus stört jemals die Atmosphäre. In "After our efforts" sammeln sich ein paar Stimmen, verdichten sich zu einem Chor, der hinter den Violinen eine melancholische Melodie ohne Worte singt. Selbst das Piano nimmt hier die festeren Formen an. Boysen und Plano haben die Schönheit und die Schwere der Existenz wie des Universums in die herausragenden Stücke dieses Albums packen können.

Nicht jeder Moment lässt sich allerdings von Beginn an fassen, oftmals bekommen Stücke zwar Strukturen, verlassen sie jedoch wieder schnell. Trotzdem baut sich auf "Everything" von der ersten Sekunde an eine eigeneskleine Welt auf, in der Boysen und Plano den Hörer ebenfalls alles sein lassen. Ob im taumelnden "Aalystice" oder im verschwommenen "We’re here", die Freiheiten des Spiels, die Freiheiten des Lebens finden sich im Kern dieser Stücke wieder. Das hier ist der Soundtrack für die eigenen Gedanken, für die Augenblicke des Innehaltens, für die Wucht des Seins. Und ja: Da gehört Pathos dazu. Dieses Album stößt im Inneren etwas an. Aus dem Universum entsteht das Universum eines Spiels entsteht das Universum eines Albums. Das Leben findet einen Weg. Bei all der Schwere, die da mitschwingt, wissen Boysen und Plano auch, dass die Leichtigkeit dazugehört. Das Ende setzt "Reaching light". Denn zum Licht darf man sich bei all diesen tiefenphilosophischen Dingen ja trotzdem wenden. Italo Calvino hätte das gefallen.

(Björn Bischoff)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • We're here
  • Inside air
  • After our efforts

Tracklist

  1. Opening
  2. We're here
  3. Winding and unwinding
  4. Eisenach
  5. An infinite day
  6. Opening light
  7. Aalystice
  8. Inside air
  9. After our efforts
  10. Reaching light
Gesamtspielzeit: 39:21 min

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MartinS

2017-07-23 22:45:38

Rezi macht neugierig, Plano Solozeug macht neugierig. Ich werde mit Freude reinhören.

Armin

2017-07-19 21:45:27- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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