Benjamin Booker - Witness

Rough Trade / Beggars / Indigo
VÖ: 02.06.2017
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Das Sein bestimmt das Unwohlsein

Benjamin Booker mischt gerne verschiedene American Roots-Stile wie Blues und Soul, sein Herz aber gehört dem Punk. Das passt besser zusammen als man denkt. Diesen Genres ist gemeinsam, dass die Musik nicht nur für sich steht, sondern untrennbar mit der Persönlichkeit und Präsenz des Künstlers verbunden ist. Meistens gelingt das dann besonders gut, wenn hinter der Musik ein Mensch steht, der viele Kämpfe durchstehen muss: Mit der Gesellschaft, mit seinen Lebensumständen, mit seinem eigenen Emotionen. Benjamin Booker hat auf jeden Fall schon einiges durchgemacht: Aufgewachsen in einem religiösen und konservativen Elternhaus, verbrachte er die meiste Zeit seines Collegestudiums im Drogendelirium. Später arbeitete er bei einer Wohltätigkeitsorganisation in New Orleans und war arm wie eine Kirchenmaus. Persönlichkeit: Check. Und um Präsenz braucht sich Booker mit seiner mächtigen Stimme, die fast mehr Reibung als Klang ist, keine Sorgen zu machen. Dass ihn gerade diese Stimme und seine Gitarre eines Tages besser dastehen lassen würden, hätte Booker wohl nie zu träumen gewagt. Wohl auch deswegen brauchte er nach seinem sehr guten und überraschend erfolgreichen "selbstbetitelten Debütalbum" erst mal eine Auszeit: Ohne ein Wort Spanisch zu können, packte er seine Koffer und zog auf unbestimmte Zeit nach Mexiko. Das war eine gute Idee, denn umgeben von der fremden Kultur gelang es Booker, eine Außenperspektive einzunehmen – sowohl zu sich selbst als auch zu der Gesellschaft, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist. Was er auf diesem Trip gelernt hat, teilt er auf seinem neuen Album "Witness" mit – verpackt in wunderbar raue, direkte und doch stets durchdachte Musik.

Im Opener "Right on you" entlädt sich die gesamte Garage-Rock-Energie in nur zweieinhalb Minuten – wer nach dieser Spritze Koffein nicht hellwach und aufmerksam im Sattel sitzt, dem ist auch nicht zu helfen. Gleich danach, in "Motivation", wird ein Gang zurückgeschaltet, der Hörer soll ja bei der Stange bleiben und sich nie zu sehr auf einen bestimmten Sound einrichten. Zu Akustikgitarre und schepperndem Schlagzeug gesellt sich ein Streichensemble. Pünktlich zum Zwischenspiel kommt der Punkrock wieder zu Besuch – wer hätte gedacht, dass Cello und E-Gitarre eine so herzzerreißende Romanze hinlegen können? Ähnlich innig gibt sich "Believe". Zu klagenden Streichern sucht Booker verzweifelt nach einem Sinn: "I just want to believe in something / I don't care if it's right or wrong." Es ist eben knifflig und angsteinflößend, sich einer Sache zu verpflichten.In "Truth is heavy" wird der Geliebten mit den besten Absichten davon abgeraten, sich auf eine Beziehung mit ihm einzulassen. So sehr er sich bemühe, aus Begeisterung werde doch früher oder später Enttäuschung.

Der Schlüsselsong des Albums ist aber zweifellos "Witness". Während die meisten Lieder vom eigenen Egoismus handeln und der Schwierigkeit, einen anderen Antrieb zu finden als den der individuellen Befriedigung, dreht Booker hier den Spieß um und fragt nach der Verantwortung des Einzelnen für das große Ganze: "Werde ich ein Zeuge sein? Nur ein Zeuge?" Inmitten seiner künstlerischen Enklave in Mexiko City wurde Booker nämlich plötzlich klar, dass er sich weniger auf einem Selbstfindungstrip als auf der Flucht befand: Vor Hass und Rassismus. Im Begleittext für das Album erklärt Booker, er habe selbst lange geglaubt, durch seine Intelligenz vor dem Rassismus in seiner Südstaaten-Wirklichkeit gefeit zu sein. Als er selbst in Mexiko wegen seiner Hautfarbe angefeindet wurde, und seine Freunde zu Hause im Namen unschuldiger Opfer von Polizeigewalt protestierten, wurden ihm zwei Dinge bewusst: Dass er Angst hat. Und dass diese Angst berechtigt ist. Umso entschiedener fordert er in diesem Song, lautstark Zeugnis abzulegen. Der Gravität des Themas entsprechend greift Booker auf die Mittel der Gospelmusik zurück: Ein dünnes Klavier, das in einer kleinen Baptisten-Kapelle in Louisiana stehen könnte, und ein Chor mit ordentlich Pathos und Timbre bilden den Rahmen für Bookers Bekenntnis. Im letzten Song des Albums, "All was well", in dem Booker noch mal die Rockturbinen anschmeißt und in Höchstgeschwindigkeit davondüst, verabschiedet er sich auch endgültig von der Illusion, dass all seine Kämpfe nichts mit strukturellen Problemen der Gesellschaft zu tun haben: "Built around the truth to keep it secret / Made excuses all my life until I just believed it / Believed that all was well." Und dann noch: "If I have my way / I'll tear this building down."

(Eva-Maria Walther)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Motivation
  • Witness
  • Believe
  • All was well

Tracklist

  1. Right on you
  2. Motivation
  3. Witness
  4. The slow drag under
  5. Truth is heavy
  6. Believe
  7. Overtime
  8. Off the ground
  9. Carry
  10. All was well
Gesamtspielzeit: 32:13 min

Im Forum kommentieren

saihttam

2018-01-17 19:05:21

Ich mag den Jungen auch. Schön kurzweilig. Tolle Einflüsse. Sehr interessante Stimme.

Klopfer

2018-01-17 18:10:31

1A die Platte, macht sehr viel Spaß. Wäre auch bei 8/10

honk

2017-06-14 20:06:30

Erinnert mich stark an Gomez, noch jemand?

diggo

2017-06-01 06:12:30

Aus meiner Sicht nicht ganz so stark wie das Debüt, aber trotzdem sehr gute Platte. Ich hätte 8/10 gegeben. Highlights: "Witness", "Right On Time" und "Off The Ground".

Armin

2017-05-31 21:01:42- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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