Die Negation - Herrschaft der Vernunft
CargoVÖ: 19.05.2017
Noch einmal von Zorn
"Die Familie ist die Keimzelle des Staates: NEIN. Nach dem Kochen ist der Pilz nicht mehr so giftig: NEIN. Stellen Sie bitte Ihre Geräte auf Zimmerlautstärke: NEIN." Zugegeben: Trotz eindeutig zum Ausdruck gebrachter Ablehnung stammen obenstehende Sätze nicht etwa aus dem Debüt des Post-Hardcore-Quartetts Die Negation, sondern aus Peter Handkes Theaterstück "Hilferufe". Was allerdings kaum besser passen könnte, denn ein Hilferuf ist auch dieses Album. Aus persönlichen Abgründen, wider menschenverachtende Geisteshaltungen und virtuelle Parallelwelten, in denen niemand leben will, obwohl es im Grunde jeder tut. Familie? Addiert man die bigotte Esszimmer-Idylle auf dem Cover und das jüngste Video, für die Band offenbar die Hölle auf Rädern. Pilzrahmsuppe? Außerhalb der heiligen Hallen des vollverglasten Plattentests.de-Redaktionsgebäudes auch nicht immer das, was sie mal war. Und Zimmerlautstärke – machen Sie Witze? Falls ja, Vorsicht: Die Negation machen ernst.
Der überwiegend im Ruhrgebiet beheimatete Vierer weiß nämlich, wie das geht: Drei Mitglieder sind sonst in den Punk-Bands Zero Mentality, Beneath The Wheel und The Heartbreak Motel aktiv. Dazu kommt Drummer Christian Bass von den thüringischen Hardcore-Metallern Heaven Shall Burn – auch für derbe Speed-Walzen ist also gesorgt. Womit der Bezugsrahmen von "Herrschaft der Vernunft" geklärt wäre, oder wenn man bei der Tischsituation im Artwork bleiben möchte: Die Negation verspeisen Fjørt und KMPFSPRT zum Frühstück, bröseln ein paar Blumen am Arsch der Hölle drüber und spülen mit Dackelblut nach. Hot Water Music kochen Tee, Boysetsfire zünden das Stövchen an. Erstmals auf einer Single im Herbst 2016: "Das Versteck" erörterte zu Magengruben-Gitarren und Donner-Bass das eigene Scheitern, "Schalen des Zorns" kickte einen Hartwurst-Groove und spuckte am Ende ein "Killing in the name"-Fragment in die Ecke. Und für alle, die das verpasst haben, betäuben beide Songs auch hier die Ohren.
Was nicht zuletzt an Michael Laur De Manos liegt: Der Vokalist pflegt auf sämtlichen zehn Stücken ein derart entfesseltes Geschrei, dass 90 Prozent aller Screamo-Frontleute schon mal anfangen können, mit Reißzwecken zu gurgeln. Und Grund für stimmliche Zurückhaltung gibt es in der Tat nicht, wenn "Digitales Deutschland" mit ähnlichen musikalischen Mitteln wie oben gegen das allgegenwärtige Verdämmern vor Prekariats-TV und asozialen Netzwerken anbrüllt oder "Scheusal von Oldenburg" genauso fassungslos wie ohnmächtig den Verlust von Nächstenliebe und Toleranz beklagt: "Wie kannst Du nur hassen, dass Menschen sich lieben / Menschen sich helfen, sich ein Zuhause geben?" Fragen, auf die auch Die Negation keine Antwort wissen, sodass der Zeitlupen-Core des tonnenschweren "Wer alle Welt schätzt, schätzt am Ende keinen" kurzzeitig desillusioniert durchhängt – doch die nächste Detonation wartet schon. Nichts ist neu, alles bleibt scheißer. Außer diesem imposant aufbrausenden Album.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Das Versteck
- Digitales Deutschland
- Wer alle Welt schätzt, schätzt am Ende keinen
- Schalen des Zorns
Tracklist
- Von Hyänen
- Das Versteck
- Digitales Deutschland
- Knochenmann
- Wer alle Welt schätzt, schätzt am Ende keinen
- Scheusal von Oldenburg
- Das unsichtbare Gift
- Schalen des Zorns
- Narbenkind
- Monolith aus Scheiße
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- Die Negation - Herrschaft der Vernunft (4 Beiträge / Letzter am 27.06.2017 - 17:41 Uhr)