Tall Ships - Impressions

Fat Cat / Al!ve
VÖ: 21.04.2017
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Aufstehen, weitermachen!

Was ist Schönheit? Ist jenes schön, auf das sich die Mehrheit einigen kann? Ist der Begriff von Schönheit subjektiv oder kann etwas universell schön sein? Was ist schöner? Ein weißer Sandstrand oder eine Klaviersonate? Die Philosophie sucht seit jeher Antworten auf diese Fragen. Einigen kann man sich bisher auf Folgendes: Schönheit hinterlässt einen angenehmen Eindruck, sie hebt sich durch Besonderheit vom Hübschen ab. Etwas, das als schön empfunden wird, trifft den kulturell ausgeprägten Sinn für Ästhetik eines Individuums oder einer Gruppe. Und was macht die Schönheit von Musik aus? Ist es das Bedienen von Erwartungen, also das Schlagen in die Kerbe der kulturellen Prägung des Hörers? Oder ist es die Innovationskraft, die der Kunst im Allgemeinen innewohnt, das Strahlen des Neuen, des Unerwarteten? Vielleicht liegt die Antwort irgendwo dazwischen, möglicherweise aber auch außerhalb dessen, was wir logisch erfassen können. Wichtig ist, dass jeder, der Musik liebt, selbst unzählige Gründe für seine Liebe anführen kann. Oftmals lieben wir Musik nicht allein dafür was sie ist, sondern dafür, was sie für uns bedeutet. Es ist nicht nur die Geschichte, die uns erzählt wird und auch nicht allein die Art wie sie erzählt wird. Was wir in unseren Gedanken daraus formen, wie wir sie auf uns selbst beziehen und was wir selbst beim Hören fühlen, macht aus einem Album mit guter Musik etwas Besonderes – etwas Schönes.

"It's a beautiful morning" – bedächtig und einfühlsam wird mit diesen Worten nicht nur das zweite Album von Tall Ships namens "Impressions" eröffnet, es wird gleichzeitig das Setting für eine bewegte Geschichte geschaffen. Behandelt wird der Kampf und die Schwierigkeiten, genauso wie die lohnenden Momente und die Freude, die Tall Ships in den vergangenen vier Jahren durchlebt haben. Nach dem Debüt "Everything Touching" von 2012 ging es für die vier Briten steil nach oben. Von den Kritikern hochgelobt, bespielten Tall Ships ausverkaufte Locations in ganz England und schafften es sogar auf die Bühnen des Reading und Leeds Festivals. Dass das Leben als Mitglied einer Band nicht immer einfach ist, dass man ständig mit Rückschlägen zu kämpfen hat und manchmal sogar an dem zweifelt, was man tut, weiß jeder Musiker, der sich dem Leben auf Tour, zwischen Proberaum und Studio verschrieben hat. Und so verschwanden Tall Ships Ende 2012 komplett von der Bildfläche. In einem Interview im März 2017 erzählt Bassist Matt Parker von den Schwierigkeiten, mit denen seine Band zu kämpfen hatte: Neben einem Schuldenberg hatte die Gruppe zusätzlich mit der psychischen sowie physischen Belastung des Tourlebens zu kämpfen. Eine Reihe von Verletzungen, die sich Schlagzeuger Jamie Bush zuzog, Sorge um die geistige Gesundheit von Parker und Sänger und Gitarrist Ric Phethean, sowie die finanzielle Not zwangen die Band zu einer Pause. Die Zukunft von Tall Ships war zu diesem Zeitpunkt ungewiss.

Mit der EP "Will to life" gab es 2015 aber glücklicherweise wieder ein Lebenszeichen der Gruppe. Nun folgt der zweite Longplayer der Post-Rocker aus Brighton. Man hört "Impressions" all die negativen Erfahrungen, die die Band machen musste an. Vor allem hört man aber eine Gruppe, die in der Lage ist alle Schwierigkeiten zu überwinden und – gestärkt von diesen Erlebnissen – mit wunderbar gefühlvollen Songs ein Ventil zu schaffen. In "Petrichor" kokettiert die Band ganz bescheiden mit ihrer bewegten Vergangenheit: "So please forgive me for my boring stories", heißt es da. Langeweile kommt auf "Impressions" nicht eine Sekunde auf, so schwierig die Geschichte der Band auch war, so spannend und mitreißend tragen sie diese vor. Wie sich die Synthesizer im Opener "Road not taken" langsam ausbreiten und zusammen mit Gitarre und Piano langsam zu einem beinahe orchestralem Gebilde aufbäumen, nur um nach kurzer Atempause in ein Post-Rock-Feuerwerk zu gipfeln, kommt dem Gefühl gleich die aufgehende Sonne zu betrachten und zu beobachten, wie sie nach und nach die Landschaft erhellt, und mit ihren wärmenden Strahlen Winkel für Winkel von der Nacht befreit. Die Aufbruchstimmung und das Hoffnungsvolle, das dieser Track ausstrahlt machen deutlich, dass Tall Ships mit "Impressions" ein dunkles Kapitel hinter sich lassen. Mit diesem Album beginnt ein neuer Tag – "Nothing stays the same" singt Phethean zum Ende hin. Man hört förmlich wie die Last, die er sich mit diesen Worten von der Seele singt, auf den Boden knallt. "Will to life" bekräftigt mit der titelgebenden Zeile eben jenes bereits angedeutete Gefühl. Zudem zieht der Song mit seinem abgehackten Gitarrenriff stark nach vorne und entlädt im vor Energie überschäumenden Refrain seine ganze Positivität: Der flotte Beat und die Offbeat-Gitarre machen "Will to life" dazu noch richtig tanzbar.

Alle Songs auf "Impressions" sind gezeichnet von kreativen Beats und der Weite des Klangbilds. Die Bezeichnung Post-Rock wird der Musik von Tall Ships nicht ganz gerecht, obwohl dieser die Grundlage bildet. Aber die Band setzt stärker auf die Zugänglichkeit ihrer Songs als das im Genre üblich ist. Endlos ausufernde Instrumentalparts fehlen vollends, alle Songs sind sehr straight und klar strukturiert und setzen mehr auf ihre hymnenhaften Melodien als auf experimentelle Frickelei. Trotzdem sind die grundsätzlichen Post-Rock-Elemente immer klar erkennbar. So beispielsweise im vergleichsweise trägen "Home", welches erst zum Ende hin seine ganze Kraft entfaltet und sich dann, nach druckvoller Steigerung an dem sehr melodiösen Thema des Songs abarbeitet. "Meditations on loss" erinnert mit seinem New-Wave-Vibe stark an Editors und gibt sich textlich und musikalisch mehr der Düsternis hin als die bisherigen Tracks. Einen versöhnlichen Abschluss findet "Impressions" mit "Day by Day": "Cause when you don't believe in anything at all / It's up to you to save yourself and escape", heißt es darin. Wieder eine Anspielung an das Wiederaufstehen, das Weitermachen und Nicht-Aufgeben. Allzu leicht klingen solche Worte durch die falsche Vortragsweise pathetisch. Nicht so auf "Impressions": Jedes Wort klingt wahr und wird mit solcher Hingabe vorgetragen, dass man immer wieder Berührungspunkte mit der eigenen Gefühlswelt schafft. So neigt man dazu, sich berühren zu lassen und vielleicht sogar die Geschichte von Tall Ships zu seiner eigenen zu machen. Und genau so leistet man als Hörer seinen ganz persönlichen Beitrag zu der Schönheit, die diesem wundervollen Album innewohnt.

(Christopher Padraig ó Murchadha)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Road not taken
  • Will to life
  • Petrichor
  • Meditations on loss
  • Day by day

Tracklist

  1. Road not taken
  2. Will to life
  3. Petrichor
  4. Home
  5. Lucille
  6. Meditations on loss
  7. Sea of blood
  8. Lost found
  9. Day by day
Gesamtspielzeit: 43:30 min

Im Forum kommentieren

Gomes21

2018-06-25 14:04:45

absolut

The MACHINA of God

2018-06-25 12:59:41

Mal wieder rein gehört. Doch ziemlich gut.
"Meditations" on loss ist ein absoluter Klassiker.

Vennart

2017-10-19 22:59:22

Äußerst schade und das ist noch untertrieben :(
Eine großartige Band, die mit “Impressions“ wenigstens mit einem Meisterwerk aufhört.

The MACHINA of God

2017-09-29 12:10:33

Ja, ist schon schade.

Gordon Fraser

2017-09-28 18:41:54

Gerade erst entdeckt, schon aufgelöst. Menno... :(

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