Julien Baker - Sprained ankle

Matador / Beggars / Indigo
VÖ: 17.03.2017
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Durch den Schmerz

Eine kleine Anekdote: Als ich 17 Jahre alt, saß ich an einem kalten Tag im Dezember auf einer kleinen Mauer, sprang herunter und knickte mit dem linken Fuß auf der Bordsteinkante um. Knöchelbruch, Bänder- und Sehnenriss. Noch heute tut mir das manchmal weh. Aber ich laufe weiter. Nie wieder bin ich irgendwo runtergesprungen, ohne vorher zu schauen, wo die Bordsteinkante ist. Julien Baker ist mit ihren 21 Jahren gerade nur ein wenig älter als ich es damals war, und hat, wie jeder von uns, ihre ganz eigenen Brüche und traumatischen Erfahrungen hinter sich, körperliche wie seelische. Ihr Debütalbum "Sprained ankle" wird im Jahr 2017 zum nunmehr dritten Mal veröffentlicht: Das erste und zweite Mal erschien es 2015, zunächst auf ihrer Bandcamp-Seite, dann über das kalifornische Indie-Label 6131 Records. Zwei Jahre, nachdem die neun Songs das Licht der Welt erblickten, präsentiert Matador sie einer noch größeren Öffentlichkeit.

Zum Glück – denn auch wenn es zynisch klingt, leidet wohl kaum jemand so schön wie Baker. Das muss man gesehen haben. Und mehr noch: Das muss man gehört haben. Der verstauchte Knöchel des Mädchens aus Tennessee steht metaphorisch für ihr ganzes, noch so junges Leben. Heranwachsen ist schwer genug, aber wenn bestimmte Schlagworte aufeinandertreffen, kann es bisweilen so gut wie unmöglich erscheinen. Etwa wie in Bakers Fall: Homosexualität, Südstaaten, Gottesfurcht. Überfordert flüchtete sie sich in Alkohol und Drogen, hinterfragte ihren Glauben, wählte Isolation und Angst, bevor sie einen Weg fand, um ihre Dämonen zu bekämpfen. Und so lief auch sie weiter, durch den Schmerz, nicht aber vor ihm davon. "Sprained ankle" ist nicht nur ihr Ventil, sondern das Zeugnis ihres bisherigen Werdegangs. Intim, ehrlich, stellenweise in seiner Traurigkeit kaum zu ertragen. Und am Ende siegt doch die Hoffnung.

Viel braucht sie dafür nicht, davon konnten sich bereits die Besucher des Maifeld Derby 2016 vergewissern – Bakers Stimme und ihre Gitarre reichen aus. Minimalistisch ist das, im besten Sinne. In manchen Songs passiert nicht viel, und doch spürt man als Hörer, wie man mehr und mehr in diese Erzählungen eintaucht. "Blacktop", der Opener, ist federleicht und doch tonnenschwer: Ein Autounfall, der fast tödlich endet, steht für das ambivalente Gefühl einer heimlichen, vermeintlich verbotenen Romanze im Süden der USA. Liebesbriefe werden geschrieben, aber nicht abgeschickt. Sogar Bakers Gesang kann mehrfach gedeutet werden: Fragil wie ein dünner Ast. Und doch gestärkt vom Wissen, dass schon alles seinen Gang gehen wird.

Auch das hauchzarte "Brittle boned" hat einen morbiden Unterton. Eben noch im hinteren Teil eines Krankenwagens, geht es nun direkt ins Sterbebett im Krankenhaus. Der Tod ist jedoch nicht das Ziel. Vielmehr versucht Baker hier nur jene dunklen Seiten ihrer Persönlichkeit loszuwerden, die sie schwächen: "White flag, blindfold covering my sunken eyes / And a line of rifles aimed at my sick mind." Manchmal muss man eben Dinge hinter sich lassen, bevor es nach vorne gehen kann, das weiß auch das stark an Daughter erinnernde, fast schon gespenstische "Something". Da wird die Erzählerin keine unliebsame Charaktereigenschaft los, sondern einen ganzen Menschen, vor dem sie sich erklären will und die richtigen Worte erst findet, als er weg ist. Baker bettelt, fleht, schreit am Ende ihre Wut heraus, bleibt aber doch ungehört. Die Verzweiflung schwingt in jeder Zeile mit, jeder Silbe, wir alle haben das schon erlebt und dennoch kennt keiner von uns das blöde Gegenmittel.

Trotz allem – des Schmerzes, der Wehmut, der Melancholie – sieht Baker das berüchtigte Licht am Ende des Tunnels: "But I think there's a God and he hears either way / When I rejoice and complain", ruft sie im zwischen Anklage und Wertschätzung wandelnden "Rejoice" laut aus, während das etwas leichter daherkommende "Everybody does" fast schon resignierend feststellt: "You're gonna run when you find out who I am / You're gonna run / It's alright, everybody does." Doch der Glaube an das Gute bleibt. Zum Schluss, wenn "Go home" den Abschied einleitet, ist Baker die Flucht vor allem und jedem leid und möchte nur nach Hause – lässt dabei jedoch offen, ob sie wirklich den Ort meint oder das Gefühl. Das Piano spielt die Melodie der christlichen Hymne "In Christ alone", im Hintergrund spricht ein Priester. In einem Interview erzählte Baker, dass die Aufnahme zufällig durch einen technischen Fehler entstanden sei. Aber wenn wir beim Hören von "Sprained ankle" etwas gelernt haben, dann das: Alles hat seinen Grund, selbst der größte Schmerz.

(Jennifer Depner)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Everybody does
  • Something
  • Rejoice

Tracklist

  1. Blacktop
  2. Sprained ankle
  3. Brittle boned
  4. Everybody does
  5. Good news
  6. Something
  7. Rejoice
  8. Vessels
  9. Go home
Gesamtspielzeit: 33:50 min

Im Forum kommentieren

hesmovedon

2020-06-19 14:45:02

Erst vor kurzem erstmal gehört.
Kurzbeschreibung:
So einfach, und doch so gut
So ruhig, und doch so engergievoll

Julian Bäcker

2017-06-01 11:09:50

Na? Wer von euch emotionalen Burschen war gestern Abend beim Konzert in München anwesend?

Gomes21

2017-03-26 19:48:13

Mal schauen, wenn ich nichts vor hab fahr ich vielleicht mal nach Münster zum Konzert

Arbeiter

2017-03-26 19:43:30

Irgendwie nicht so meins. Der Funke springt nicht über.

AndreasM

2017-03-25 08:41:15

Kommt im Mai auch für ein paar Konzerte rüber!!!!1111einseinself

Mi 24.5.2017 Jena
Do 25.5.2017 Berlin
So 28.5.2017 Hamburg
Mo 29.5.2017 Münster
Di 30.5.2017 Heidelberg
Mi 31.5.2017 München


Dazu noch am 26.5. auf dem Immergut in Neustrelitz!

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