Chilly Gonzales & Jarvis Cocker - Room 29

Deutsche Grammophon / Universal
VÖ: 17.03.2017
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Bademantel knutscht Cordhose

Chilly Gonzales hockt im Bademantel am Flügel. Genießerisch brummt der wuchtige Kerl vor sich hin, während Jarvis Cocker grazil um ihn herumtänzelt, natürlich in apartem Dandy-Zwirn, Karo-Sakko und Cordhose. Da haben sich zwei spleenige Gestalten gefunden. Um zu musizieren. Der eine klimpert behäbig seine Suada am wohltemperierten Klavier, der andere gockelt am Mikrofon, faselt wohlamüsiert seine skurrilen und albernen Einfälle vor sich hin. Damit wäre "Room 29" auch schon hinreichend beschrieben: Zwei adrette Musikusse, mittlerweile angekommen im Schick und Staub des biederen Bildungsbürgertums, spielen Kammermusik für die Lounge, Jazz für die Bar, pusten den Flair vom Broadway um sich und laben sich an achtbaren Formen der Klassik: Ouvertüren, Zwischenspiele, Reprisen. Gütebesiegelt mit dem gelben Logo der altehrwürdigen Deutschen Grammophon.

Nett, leicht spießig, dekadent, doch elegant – das sind auch Attribute des Chateau Marmont, eines Hotels am Sunset Boulevard in Hollywood. Überhaupt scheint es sich um einen neuen, alten Lieblingsort für Pop zu handeln: Benjamin von Stuckrad-Barre nistete sich dort ein, um seinen Bestseller "Panikherz" zu tippen. Emile Haynie zog die Stars für "We fall" aus den Gängen, direkt in sein zum Studio umgebasteltes Zimmerchen. Das Chateau verheißt eben Großes. Eine Verheißung, die durch die Geschichten von Größen entstanden ist: Led Zeppelin, die auf Motorrädern durch die Hotelhalle jagten, John Belushi, der sich dort einem finalen Schnupfer hinagab, James Dean, der durchs Fenster hüpfte. Beim Wissen um all diese illustren Künstler kommt der Schöpfergeist ganz von selbst.

So auch in Zimmer 29, wo ein halb verwahrloster Flügel herumsteht, den einst Clara Clemens' Ehemann dort hingeschleppt hat – also Mark Twains Schwiegersohn. An diesen Tasten ließ sich Gonzales nieder, recycelt eine seiner früheren Melodien, nun begleitet von Cockers Gesang in "Clara". Vater stirbt, Tochter säuft, die Familie schaufelt sich selbst ins Grab, dazu hauchen Streicher und Klavier ganz zart. "Room 29" ist ein Liederzyklus, in der Form schon so nostalgisch, wie es dieses Schwadronieren über goldene Hollywood-Zeiten gebietet. Immer wieder dieses "Könnten die Wände nur sprechen", über Marlene Dietrich oder Jean Harlow, die es Cocker so angetan haben. Geschminkte Fassaden, um das Blitzlichtgewitter zu überstehen, wobei sich im Inneren der Schmerz rötlich ballt – so haben sich wohl auch Pulp Ende der 90er gefühlt.

Cocker interessieren nur die Highlights eines Lebens, Schmerz und Schönheit. Das famose "A trick of the light" bringt es auf den Punkt: "This is what I have been dreaming about / Life with the boring bits edited out." Ach könnte nur, wie beim Zelluloid, geschnippelt und zusammengeklebt, das Beste vom Besten vorgeführt werden. In einer Vorstellung, zu der das eröffnende Titelstück einlädt: hinsetzen, Knabberbrezeln fassen, mal in die Minibar greifen. Denn "Room 29" war zunächst ein Liederabend mit grobkörnigen Filmchen. Doch Gonzales und Cocker wollten ihren Zyklus – wie sich das schon anhört! – weiterspinnen. Die Pointen sitzen daher: Du brauchst keine Freundin, Du brauchst einen Sozialarbeiter, singt Cocker. Selbstironie, die schmerzlich ist, aber auch grinsen lässt.

Gonzales imitiert sogar den Slapstick von Laurel und Hardy am Klavier. Ein wilder Lobbytrubel weht durch die "Marmont overture". "Bombshell" schert pompös zwirbelnd aus, Cocker durchschaut mal wieder alle: "Jetzt kann ich's sehen: Der Typ ist wahnsinnig." Er, Du, ich? Oder Howard Hughes, der kurz darauf plappert? Oder dieser "Belle boy" bei überzogenem Theatergehabe? "Room 29" ist klatschbegeistert, kitschig, herzlich, versponnen, schroff romantisch und könnte auch "Über Tränendrüsen und Sexbomben" heißen – gleichzeitig ein passender Titel für Cockers Autobiographie. "Room 29 / I heard them say / Is the only place to stay / Room 29 / Is where I face / Myself alone." Dabei hockt doch der Mann im Bademantel gleich daneben.

(Maximilian Ginter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Tearjerker
  • Clara
  • A trick of the light
  • Ice cream as main course

Tracklist

  1. Room 29
  2. Marmont overture
  3. Tearjerker
  4. Interlude 1 - Hotel stationery
  5. Clara
  6. Bombshell
  7. Belle boy
  8. Howard Hughes under the microscope
  9. Salomé
  10. Interlude 2 - 5 hours a day
  11. Daddy, you're not watching me
  12. The other side
  13. The tearjerker returns
  14. A trick of the light
  15. Room 29 (Reprise)
  16. Ice cream as main course
Gesamtspielzeit: 50:41 min

Im Forum kommentieren

jetzt live auf fm4

2018-01-19 18:36:10

http://fm4.orf.at/stories/2889346/

oh no

2017-03-13 16:52:13

Lassen Sie es besser sein, Herr Ginter

Hipster aus Bochum

2017-03-08 21:53:02

Wäre ganz an mir vorbeigerauscht. Bei Spotify gibts kaum was zu hören bisher.
Nach Lesen der Rezension habe ich immer noch keine Idee, wie das Album denn stilistisch einzuordnen ist.
Interessant finde ich, ob die Aufnahme was taugt, oder das gelbe Emblem da halt einfach drauf pappt.
So sehr ich die Solo Piano (1) mochte, so unwürdig war der besonders bräsige Sound.

Armin

2017-03-08 21:42:26- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

Armin

2017-01-18 20:10:57

„Room 29“ ist das gemeinsame Album von Chilly Gonzales und Jarvis Cocker. Das Album erscheint am 17.03.2017 via Deutsche Grammophon/ Universal Music.

Chilly Gonzales weiß, wie das Klavier als Instrument den Spieler und den Zuhörer von mitreißenden eskapistischen Rauschzuständen bis zu klarer Intellektualität führen kann, wie es wunderbar von der Bewegungslosigkeit zu höchster Erregtheit fließt, und er liebt, was das Klavier alles leisten kann.

Er legte all diese Ideen und seine unverkennbare Liebe zum Kunstlied des 19. Jahrhunderts in eine Gruppe von Musikstücken, die dann nur noch Texte und eine Gesangsstimme brauchten, um schließlich zu einem Zyklus geformt zu werden. Chilly wandte sich an Jarvis, befand sich bildlich gesprochen in dem Hotelzimmer, das den Rahmen für die Stücke abgeben sollte, und schickte ihm die Musik, oft mit einfachen Arbeitstiteln versehen, die Jarvis dann verwendete, um einen Song zu machen – etwa »Bellboy« oder »Tearjerker«.

Das in der Romantik verwurzelte Konzept des Liederzyklus als Ausdruck einer Stimmung, als eine Reihe von Impressionen, erfährt in der Ära nach der LP eine Neubelebung durch den unergründlichen, idealistischen und liedbegeisterten Jarvis Cocker und seinen fantasievollen, experimentierfreudigen neuen Mitstreiter. Es ist eine wenig vertraute Gattung, die selten überhaupt als solche bemerkt wird, als ob die Idee einfach zu unbestimmt sei, nur eine praktische Art, Lieder miteinander zu verknüpfen oder eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen, eine Gattung, die kleinformatig oder symphonisch sein kann, ausgefallen oder skizzenhaft. Aber Jarvis und Chilly behandeln sie als etwas sehr klar Umrissenes und Praktisches, als eigenständiges Werk, eine Form, um virtuelle Realität zu schaffen.





Live wird dieses Projekt wie folgt zu sehen sein:

17./18./19. März: Hamburg Kampnagel

23./24./25. März: London Barbican

27./28./29. März: Berlin Volksbühne

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