Danny Brown - Atrocity exhibition

Warp / Rough Trade
VÖ: 30.09.2016
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Ausdrucks-Punk

Ein Rapper, der Radiohead zum Joggen hört und sich dann beschwert, dabei zu ermüden, muss ein komischer Kauz sein. Danny Brown platzt förmlich vor eigenbrötlerischer Kauzigkeit. Zwischenzeitlich musste sich der geneigte Twitter-Follower ernsthaft Sorgen um den Gesundheitszustand des Detroiters machen, da er dort seinen inneren Kampf mit Drogen und Depressionen allzu schonungslos schilderte. Die Prognose lag nahe, dass er ohne künstlerischen Output früher oder später implodieren würde. Die Selbstzerfleischung ist vertagt. Dieser von Daniel Dewan Sewell impersonierte Charakter ist noch nicht ausgereizt und wird nach den bereits wilden Alben "XXX" und "Old" weiter an seine Grenzen getrieben. Wer mit der Namesgebung des Albums auf Joy Division bzw. auf eine literarische Dystopie und für den Opener auf den Titel eines stilprägenden Nine-Inch-Nails-Albums zurückgreift, möchte nicht der Masse gefallen, sondern anecken; und zwar genau dort, wo es weh tut. Zugegeben: Thom Yorkes Gesang pusht wirklich kaum zum nächsten Runners High. Genauso wenig eignet sich auf den ersten Blick die Instrumental-Auswahl von Danny Brown zum Rappen. Es quietscht, flirrt, pfeift und vibriert aus jeder Nische. Manchmal ist unklar, was oder wer die einzelnen Songs eigentlich zusammenhält. Die Stimme agiert ähnlich wie bei Kendrick Lamar eher als zusätzliches Instrument, denn als schlichter Textkanalisator. Die Beats gleichen explosiven Geräusch-Cocktails, ohne Rücksicht auf Hörgewohnheiten zu nehmen. Teilweise reibt man sich verwundert die Augen, wenn die nächste absurde Flow-Einlage über einen Sud aus paranoia-einflüsternden Samples und Claps niedergeht.

In manchen Ecken des Internets ist zu lesen, dass HipHop durch dieses Album überwunden sei. Das ist wohl ein wenig zu viel des Guten. Hauptproduzent Paul White schöpft nur aus einem vollkommen anderen Kosmos als die sonstige Avantgarde. Damit trifft er auf jemanden wie Sewell, der sich diese Instrumentale als Danny Brown zu eigen macht, sie umstülpt, ausspuckt und schließlich mit ihnen verschmilzt. Er surft breit grinsend auf der Spirale in den Abgrund, was er nicht erst seit "Atrocity exhibition" tragisch-komisch in Szene zu setzen weiß. Seine Darbietungen ermutigen niemanden dazu, die Gardinen vorm Fenster festzutackern. Dennoch steckt hinter all der brodelnden Sprachgewalt ein Mensch mit Problemen, der irgendwo zwischen Geisterbahn und Acidtrip auf einem Energielevel performt, das für Normalsterbliche selbst nach 10 Litern Taurin-Limonade nicht zu erreichen wäre. Der vorgeführte Abstieg in den Moloch von Drogen und Kriminalität fühlte sich selten so lebendig an. Regel- und zügellos wird vor keiner sehnsüchtigen Trompetenspur, vor keinen afrikanischen Chören, vor keiner Rhythmusgitarre halt gemacht. Die personifizierte Verweigerung setzt sich in Nietenweste und Skinny-Jeans, hektisch und expressiv über jegliche Konventionen hinweg. "Really doe" erweist sich dabei als nicht weniger als der Posse-Cut des Jahres. Die vier Protagonisten rappen alles um sie herum in Grund und Boden. Selbst Earl Sweatshirt reißt sich zusammen und umgeht seinen üblichen lethargisch-wirkenden Misanthropen-Vortrag.

Jegliche Stringenz wäre auf diesem Album unglaubwürdig. Daher gestattet der Detroiter MC Pausen, obwohl sie wirklich niemand von ihm erwartet. Er zündet bereitwillig den Joint zum Runterkommen an. In Stücken wie "From the ground" oder "Hell for it" steht die Reflektion vor der Rebellion. Dort hat das Ringen mit den inneren Dämonen klare Konturen. Ansonsten hagelt es durchgehend faszinierend diffuse Introspektiven, die wie eine rücksichtslose Bestandsaufnahme des Erlebten wirken, aber dann und wann den Aufbruch ankündigen. Beispielsweise bricht die Marschroute in "When it rain " unverhohlen durch das fiebrige Sound-Gerüst und sitzt wie ein Faustschlag mit Schlagring: "Oh, you ain't know that / When it rain, when it pour, get your ass on the floor now." Hier hat der Hörer länger was davon. Dieses Album kontert den Eintritt in Browns Wahnsinn mit Widerhaken. Die Zahnlücke mit Wiedererkennungswert ist bereits dem einsetzenden Ruhm zum Opfer gefallen. Danny Brown selbst zum Glück noch nicht. Es scheint zunächst wie normaler Irrsinn, aber es ist zutiefst glaubhaft, wenn er in "Dance in the water" rappt: "Dance in the water / And not get wet." An ihm bleibt kein Tropfen haften. Jede Kritik ist Perlen vor die Säue. Jeder Takt ist ein anarchischer Mittelfinger an die Gralshüter und dogmatischen Kultur-Beschwörer in der HipHop-Szene. Danny Brown lebt, und er tanzt allen mit Genuss auf der Nase rum.

(Michael Rubach)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Rolling stone (feat. Petite Noir)
  • Really doe (feat. Kendrick Lamar, Ab-Soul & Earl Sweatshirt)
  • Pneumonia
  • When it rain

Tracklist

  1. Downward spiral
  2. Tell me what I don't know
  3. Rolling stone (feat. Petite Noir)
  4. Really doe (feat. Kendrick Lamar, Ab-Soul & Earl Sweatshirt)
  5. Lost
  6. Ain't it funny
  7. Golddust
  8. White lines
  9. Pneumonia
  10. Dance in the water
  11. From the ground (feat. Kelela)
  12. When it rain
  13. Today
  14. Get hi (feat. B-Real)
  15. Hell for it
Gesamtspielzeit: 47:02 min

Im Forum kommentieren

Eurodance Commando

2021-07-25 11:40:28

DIESES FUCKING ALBUM!!!

Eine lupenreine 10.

MopedTobias (Marvin)

2020-02-17 14:55:17

Wie im Zuge des 10er-Votings schon angemerkt, mittlerweile ein Top-10-Rap-Album der Dekade für mich. Ein herrlicher klaustrophobischer Wahnsinn.

saihttam

2020-02-17 14:43:27

Wahnsinniger Trip mit sehr dichter Atmosphäre. Ich mag vor allem die wilden Momente. Das Album geht sicherlich nicht immer, aber wenn die Stimmung passt, weiß es zu beeindrucken.

Felix H

2017-02-01 11:41:19

Neue EP (2 Tracks plus ihr jeweiliges Instrumental) kommt am 10.2.

Loketrourak

2017-01-20 13:09:01

Auf die Stimme komm auf die Dauer nicht klar.

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