Agnes Obel - Citizen of glass

PIAS / Rough Trade
VÖ: 21.10.2016
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Das unnachgiebige Innerste

In "Envy", einem Roman von Yuri Olesha, wird bewundert, wer sich sittsam fügt. Der perfekte Sowjetbürger hat dort kuschend und zahnlos zu sein. Und auch ein wenig blöde, denn er soll nichts hinterfragen, nicht grübeln, stets zufrieden sein und seine wenigen Gedanken und Gefühlsduseleien auf der Zunge tragen. Gefährlich sind solche Menschlein nicht. Dafür singen sie vor sich hin: "Wie angenehm doch mein Leben ist. Ta-ra, ta-ra. Wie nachgiebig mein Innerstes. Ra-ta-ta-ta-ra-ree". Das 1927 veröffentlichte Buch könnte ebensogut von heute sein, man blicke nur ins nach Daten lechzende Silicon Valley. Agnes Obel hat Olesha gelesen und kann sich überhaupt nicht mit dem gläsernen Menschen anfreunden, dessen Idee momentan immer näher rückt. Also meditiert sie darüber.

Das Konzept ihres dritten Studioalbums gerät düster. Verborgene Gefühle sind unerlaubt, der Liebe wird misstraut: "And our love is a ghost that the others can't see / It's a danger / Every shade of us you fade down to keep", heißt es in "Familiar" in dem ein schüchternes Klavier tappst, bis ein raumgreifender, leicht roboterhafter Chor einsetzt. Der Gemütslage, die Obel auf "Citizen of glass" versucht einzufangen, möchte man lieber aus dem Weg gehen. Dabei steht diesem Pessimismus eine graziöse Musik gegenüber. Warme Violinen durchströmen "Stretch your eyes", eine hauchzarte Stimme schwebt darüber. Ein wenig unzeitgemäß klingt das für ein derart aktuelles Thema. Zum Glück.

Wenn jeder jeden zu jeder Zeit beobachtet, ob echt oder digital, wenn die Selbstdarstellung so krankhaft wird, wie ein Druck sich mitzuteilen, wenn also Glas nicht mehr durchschaut werden kann, weil es verzerrt – was macht das mit dem Menschen? Es gleitet ihn in die Paranoia. Er ist andauernd angespannt, wie im unangenehmen "Trojan horses". Oder verleitet diese Entwicklung doch zum Versuch, sich irgendwie zu verstecken, wie hinter Milchglas, was Obel mit viel Hall und gedoppelter Stimme in "It's happening again" versucht. Mit seinen jammernden Streichern erinnert das Stück auch ein wenig an Radioheads "How to disappear completely".

Wie bei dieser Dänin gewohnt, ist "Citizen of glass" äußerst fein orchestriert. Die Melodien werden mit allerlei Zwischentönen verziert, die Übergänge sind weich und fließend, es entsteht ein Dauerregen an wohligen Tönen. Beispielhaft in den instrumentalen, klaviererstarkten "Red virgin soil" und "Grasshopper". War Obel auf ihren vorigen Alben mal verträumt, mal intim, ist sie hier finster – bei weiterhin großer Klangschönheit. Zu purem Piano haucht sie "Feathers falling from your wing / In the dark I hear you sing". Das hat merkwürdig Tröstliches, als würde sie mit ihrem Hader, Schmerz und Schaden versuchen den der Welt zu heilen. Und das unwahrscheinliche Medium Pop nutzen, um nachzubohren, unangenehm zu verunsichern. Gläsern zu leben kann nicht angenehm sein. Jemand wie Obel ist dafür aber auch im Innersten zu unnachgiebig.

(Maximilian Ginter)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Stretch your eyes
  • Familiar
  • It's happening again
  • Mary

Tracklist

  1. Stretch your eyes
  2. Familiar
  3. Red virgin soil
  4. It's happening again
  5. Stone
  6. Trojan horses
  7. Citizen of glass
  8. Golden green
  9. Grasshopper
  10. Mary
Gesamtspielzeit: 41:54 min

Im Forum kommentieren

Lateralis84skleinerBruder

2024-01-11 10:34:06

Hab heute meinen 2015/16 Nostalgietag :D
Auch ein wundervolles Album. Liebe es, wie gefühlvoll sie singt und sich die mehrstimmigen Stellen umtänzeln und miteinander verweben

Und wieder ein gedanklicher throwback zur schwangeren Frau mit Sohnemann Nummer 1…jetzt wird nur noch Finnel gepumpt. So schnell kanns gehen

carpi

2020-11-23 16:50:28

Kann ich bestätigen, auch wenn es bei mir gestern und heute Obels "Aventine" war und der strahlend blaue Himmel gefehlt hat.

testplatte

2020-11-23 16:37:15

die hatte ich heute beim waldrundgang unter strahlend blauem himmel mal wieder auf den ohren - manchmal braucht es einfach nicht viel für glücksmomente !

hideout

2020-03-29 18:58:07

Sorry...

Schwamm drüber :-), wenn du Lust hast poste doch mal deine Wertung, mal schauen wo wir Übereinstimmungen haben. Ich benutze auch nicht das a-Wort. ;)

hesmovedon

2020-03-29 12:38:26

Wirklich ein sehr gutes Album für ruhige Stunden. Sehr gut instrumentiert und eine wunderschöne Stimme. Hab ich damals auf emusic entdeckt, aber die haben jetzt leider nichts mehr von ihr. Auf arte war auch mal ein sehr gutes Live-Konzert von ihr zu sehen.
Das neue Album hab ich noch nicht

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv

Threads im Forum