Bon Iver - 22, a million

Jagjaguwar / Cargo
VÖ: 30.09.2016
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

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Lange Zeit schien es so, als würde es kein drittes Album von Bon Iver geben: Justin Vernon wurde häufig zitiert, er habe keine Lust mehr auf dieses Bandvehikel, er sei nicht in der geistigen Verfassung, weitere Songs für jenes Projekt zu schreiben, mit dem er doch zumindest zwei gar nicht mal so kleine Meisterwerke vollbrachte. Vielmehr hingegen konzentrierte er sich zu dieser Zeit auf andere Kollaborationen und musikalische Aufgaben. In der Folge entwickelte er sich nämlich fast zu einer Art künstlerischem Sidekick für Kanye West, indem er dem größenwahnsinnigen Rap-König sowohl bei seiner Selbstinszenierung auf "Yeezus" unter die Arme griff, wie auch bei dessen Live-Umsetzung unter anderem für die Backing-Vocals verantwortlich war. Ein neues Album seiner Stamm-Band schien vor diesem Hintergrund wahrlich in weite, schier unerreichbare Ferne gerückt, die Wiederauferstehung von Bon Iver blieb ein Wunschtraum, der sanft in den Herzen vieler Musikliebhaber flackerte.

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Dass diese hoffnungsfrohe Phantasma nun doch Wirklichkeit wird, ist freilich eine wunderbare Geschichte. Noch wunderbarer ist lediglich die Tatsache, dass "22, a million" – so der leicht kryptische Titel der neuen Platte – als ein überraschendes, vielseitiges, abwechslungsreiches Werk auftritt, mit dem sich das Quartett aus Wisconsin neue Räume freischaufelt, auch wenn sich mit tausendprozentiger Sicherheit nicht jeder in ihnen wohlfühlen wird. Wofür es wiederum unterschiedliche Begründungen gibt: Vernons Kompositionen haben sich von den kristallinen Schneeverwehungen befreit, klingen mitunter kühl-modern und nicht mehr nach Wolldecken-Romantik für zartbesaitete BartträgerInnen. Stimmen werden verzerrt, elektronische Störgeräusche huschen durch die Versuchsaufbauten, stören aber nur bedingt, sondern sorgen vielmehr für atmosphärische Verdichtung. Und ganz tief drinnen, in ihrem leuchtenden, bernsteinfarbenen Kern, bleiben auch die abstraktesten Songs dieser Platte noch immer klar und deutlich dem Folk verpflichtet. Bon Iver entwickeln dieses Genre weiter, modulieren, fräsen, flexen und schmirgeln nur ein wenig daran herum, bis das Gesamtergebnis in neuem Glanze funkelt.

Moduliert, gefräst, geflext und geschmirgelt wurde auch an den Songtiteln, die sich lesen, als habe ein sehschwacher Elefant die Tracklist mit einem gestauchten Rüssel in die Tastatur eingegeben. Was ein heilloses Durcheinander! Sei's drum: Bon Iver waren seit jeher etwas verschroben und geben sich hier gar keine Mühe diesen Umstand zu verschleiern. Weshalb auch, wenn man in der Lage ist, solch formvollendete Songs zu schreiben? Der herrliche Opener "22 (OVER SOON)" klemmt in einer bunten Zwischenwelt fest, kann und möchte sich wohl auch gar nicht zwischen sehnsuchtsvollem Herbst-Folk und elektronisch-verzückter Freakpop-Wundertüte entscheiden. Ein Saxofon plustert sich im Hintergrund auf, eine Micky-Maus-Stimme wiederholt das titelgebende Mantra. Und auch wenn das alles nun wahrlich ein wenig durchgeknallt klingt, so sei doch auch versichert, dass dieses Stück ganz und gar kein Quatsch ist: Animal Collective und Co. schreiten schon seit Jahren jene Grenzgebiete ab, durchforsten die weiten Felder und Flure nach neuen Ideen und Möglichkeiten. Folk und Indie-Rock können, dürfen und sollten ohnehin weiter denken als lediglich bis zum nächsten Banjo-Solo. Bon Iver beteiligen sich nun akribisch an dieser Suche und verlassen dafür folgerichtig die Komfortzone des gemütlichen Klimperns. "10 d E A T h b R E a s T" könnte man sich eigentlich doch als schöne Ballade denken, würden Vernon und seine Mitstreiter diese zarte Nummer nicht so hingebungsvoll dekonstruieren. Die mitreißende Grandezza geht bei alledem jedoch keineswegs verloren.

Noch abstrakter gerät "715 - CREEKS", für das Vernons Stimme durch einen Irrgarten aus Effekten eilt, ähnlich einem James Blake, der für sein Debüt einst wohl im gleichen Labyrinth werkelte. Freilich wird manch Kritiker über diese Entwicklung maunzen und zetern, doch sämtliche Vorwürfe zerfallen in Staub und Asche: Bon Iver vermeiden hier auf recht mutige Art und Weise eine irgendwie unnötige Neuauflage von "Skinny love" oder "Towers", denn dass sie in der Lage sind, perfekte, einfühlsame und dringliche Folk-Oden zu schreiben, haben sie bereits eindrücklich bewiesen. Statt also den geradlinigsten Weg zum Ziel zu nehmen, gehen die US-Amerikaner mit "22, a million" ganz bewusst Umwege, schauen nach links, rechts, oben, unten, laufen Schleifen, finden Sackgassen, drehen um und scheren sich einfach nicht um die vorgegebenen Pfade. Auch im betörenden "33 "GOD"" kann man die klassischen Bon-Iver-Anlagen erkennen, die nebelsanfte Stimme Vernons etwa, die rhythmische Uneindeutigkeit oder die atmende Melancholie und doch passiert in diesen dreieinhalb Minuten so unendlich viel mehr als man für möglich geglaubt hätte. Selten war Reizüberflutung so, nun ja, reizvoll.

"29 #Strafford APTS" befriedigt dann vielleicht auch die harschesten Traditionalisten: Eine traumwandlerische Akustikgitarre schneit in die Szenerie, hinzu kommen himmlisch anmutende Streicher und Bläser, die sich im traurig-schönen Refrain dann fast völlig rausnehmen. Ein willkommener Moment der Reduktion, auf dieser so prallgefüllten Platte, eine Oase der Ruhe. Mit "666 t" folgt ein weiterer, recht reduzierter Song, der erst im Verlauf bedrohlich anschwillt und an Dramatik und Substanz gewinnt. Somit steht dieses Stück in gewisser Weise symptomatisch für die gesamte Karriere Bon Ivers: Gestartet in eleganter Kargheit und mit Finesse, wuchsen in der Folge Äste, Wurzeln und Flügel, kamen Rotoren, blinkende Lichter und funkende Kabel hinzu. Und trotz dieser Veränderungen haben Vernon und Co. nicht vergessen, Songs zu schreiben, die irgendwo im Inneren etwas auslösen: "22, a million" drückt die richtigen Knöpfe. Mit selbstverständlicher Leichtigkeit.

(Kevin Holtmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • 33 "GOD"
  • 29 #Strafford APTS
  • 666 t
  • 00000 Million

Tracklist

  1. 22 (OVER SOON)
  2. 10 d E A T h b R E a s T
  3. 715 - CREEKS
  4. 33 “GOD”
  5. 29 #Strafford APTS
  6. 666 t
  7. 21 M<><>N WATER
  8. 8 (circle)
  9. ____45_____
  10. 00000 Million
Gesamtspielzeit: 34:10 min

Im Forum kommentieren

Vraet

2022-04-28 01:12:02

Finds wirklich toll gealtert. Verbinde das Album mit besten Zeiten und mag den Sound.

Zappyesque

2019-08-24 11:12:45

Die Platte funktioniert für mich plötzlich im Kontext der Vorgängerin und der Nachgängerin sehr gut; erschließt sich mir nun viel besser. Wobei ich zugeben muss, dass ich dem Album initial wenig bis keine Chance gegeben hatte, da mein erster Eindruck so zerhackt war. Im Sound fast detailverliebter noch als das neue Album und kompositorisch mit sehr starken (Creeks, 33, Strafford, 8, 45) Momenten gefüllt, auch wenn Atmosphäre und "Sounddesign" hier den kompositorischen Faktoren für meine Begriffe haushoch überlegen sind.

Hot Take

2019-03-28 09:20:02

8 (circle) sein bester Song.

Gomes21

2017-02-02 21:08:16

Der Vorganger und die EP waren schon alles andere als akustisch.

Tobi

2017-02-02 20:49:53

Ich höre das Album seit wenigen Tagen und bin doch ziemlich begeistert. Vielleicht ein Vorteil: Von Bon Ivers früheren, wohl rein akustischen Werken kenne ich nur 1-2 Lieder. Keine Hoffnungen vorhanden, die enttäuscht werden könnten, kaum Erwartungen zu erfüllen, und geht das Ding mit diesem Opener los - so wickelt man mich um den Finger, meine Herren. Dieser Loop, diese bewegungslose, warme, fast zerbrechliche Stimmung, man wagt kaum zu atmen, zwei kurze Samples, ein Ausbruch kurz vor Ende und dann natürlich die Botschaft des Lieds (bzw. das, was ich mir darunter vorstelle). Bäm, sitzt. Herz und Ohren weit geöffnet. Beim Rest muss ich mich teilweise noch ein bisschen reinarbeiten. Aber schon jetzt: Ich bin gefangen.

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