Nick Cave & The Bad Seeds - Skeleton tree

Bad Seed / Rough Trade
VÖ: 09.09.2016
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Your funeral... my trial

Es dauert eine ganze Weile, bis im Film "One more time with feeling" das Unvermeidliche thematisiert, "trauma", "catastrophic event", "grief" und "what happened" final benannt werden: Arthur ist tot. Seitdem am 14. Juli 2015 Nick Caves 15-jähriger Sohn von einer Klippe in den Tod stürzte, ist der im britischen Brighton sesshafte Australier nicht mehr derselbe. Wir sehen einen gezeichneten Mann in schwarz-weißen Bildern. Einen unfassbar klugen Mann, der uns trotz hagerer Statur durch seine Songs oft wie ein heroischer Herrscher des Narrativen erschien, sich tagelang in finsterste Abgründe seiner Figurenwelten grub und nun selbst im Dunkel steht, gefangen in einer Hülle namens Nick Cave, aller Eigenschaften, seiner Exzellenzen beraubt. Andrew Dominik lässt Cave in seinem Film ungefiltert nach Erklärungen ringen, mit Worten, Bewegungen und Gesichtszügen nach Zusammenhängen suchen, nach Sinn. Allein: Es gibt keinen.

Caves Straucheln im Eins-zu-Eins mit der Kamera überrascht nur insofern, als dass er in seiner Funktion als Erzähler brillante Gedichte wie das über eine Hausfliege, Gott und das Burj Al Arab einstreut. Letztlich geht es an dieser Stelle nicht um "One more time with feeling", allerdings verändert und verstärkt der Film zweifelsohne die Rezeption von "Skeleton tree". Zumal er Caves einziges Statement bleibt, zu seinem inneren Ist-Zustand, der Tragödie, der Platte. Gedacht als Dokumentation des 16. Studioalbums der Band, erlebt man The Bad Seeds zusätzlich als emotionale Stütze ihres Frontmanns. Allen voran Warren Ellis, der Cave ein rares Lächeln auf die Lippen zaubert, und aufgrund der jahrzehntelangen, engen Zusammenarbeit weiß, was der 58-Jährige braucht: kein Album getrieben von Lust und Last der Produktivität, vielmehr das aktuell bestmögliche, auditive Zeit-Dokument im Müßiggang des Weiterlebens.

Ellis gibt sodann den ersten Ton an, entlockt den Effektgeräten ein unheilschwangeres Dröhnen für "Jesus alone", ein animalisches Etwas fiept im sinistren Dickicht, die Streicher und Caves Piano im Refrain bringen dumpfes Licht in die Szenerie. Und man wähnt unter dem Panzer des wahnsinnig guten Arrangements auch eine psychische Entwicklung, als kehre in den eiskalten, leeren Blick der Anfangszeilen nach und nach ein vages Wimmern in die repetitive Aussage "With my voice I am calling you." Nach den überirdischen Synthtupfern von "Rings of Saturn" arbeitet Ellis in "Magneto" zu Caves baritoner Stimme mit hohen und stechenden Sequenzen baumelnder Sägen bipolare Störfelder auf: "I love, you laugh, we saw each other in half." Im verschrobenen "Anthrocene" wirken die Dissonanzen wie Lo-Fi-Gebahren und verschlingen synthetische Stränge nervöse Jazz-Rhythmiken. Nur Cave ruft zur Raison im Zuge nahender Entfremdung: "Well, I heard you've been out looking for something to love / Sit down beside me and I'll name it for you / ... / It's a long way back and I'm begging you please to come home now / Well, I heard you've been out looking for something to love / Close your eyes, little world, and brace yourself."

Müßig, jedem Wort ein größere Bedeutung zukommenzulassen als intendiert. Müßig, jede Silbe auf den traumatischen Einschnitt hin zu analysieren, da es ja auch schon eine Studiosession in Brighton vor dem Trauerfall gab und Nick Cave & The Bad Seeds wahrlich nicht zum ersten Mal Tod und Verlust umkreisen. Aber trotz Caves universeller Sprache und seiner Subtilität lässt der Rahmen der Platte diese Gedanken zu – und fließen. Sagen wir es einfach mal so: Es ist ein weiter Weg vom Drone-untermalten "You fell from the sky and crashlanded in the field near the river Adur" aus "Jesus alone" bis zu "And it's alright now", den finalen Worten des aufglimmenden, akustischen Titeltracks. Dazwischen sammeln sich Verbitterung, Halt-Gesuche, Gottesabkehr, Kotze im Waschbecken, (Ent-)zweisamkeiten, Sinnlosigkeit und zerschmetterte Sterne an der Zimmerdecke.

"I need you" trägt Cave so flehentlich und angekratzt vor, als wende er sich mit krampfhaft geballter Faust jemandem auf der anderen Seite einer Glasscheibe zu, während Teile der Bad Seeds bestärkend im Background agieren. Mit dem Song wandelt sich ganz zaghaft die Atmosphäre auf "Skeleton tree", wenngleich das vielleicht auch die optimistischste Lesart ist. Zu ballastbefreiten Wurlitzer-Tönen – man könnte sie nachträglich als sakralen Orgel-Ersatz einstufen – übergibt Cave in "Distant sky" an Else Torp, eine Sopranistin mit klassischer Gesangsausbildung. Ihre pathetisch und erleuchtend vorgetragenen New-Age-Verse "See the sun / See it rising in your eyes" zieren gar die Rückseite des Plattencovers. Vielleicht brauchte es die nordische Stimme mit der Aura einer kirchlichen Seelsorgerin als externe Bestärkung, weil sich Cave selbst noch nicht geheuer ist. "They told us our Gods would outlive us, but they lied."

"Skeleton tree" knüpft im Sound an den brillanten Vorgänger "Push the sky away" an, geht weniger gelöst und vielschichtig zu Werke, dafür roher und ruhiger, weil emotional verbindlicher. Woher sollen Lockerheit und Kraft auch kommen? Energie genug steckt schließlich in der puren Existenz unnachahmlicher, teils brüchiger Intonationen von "Girl in amber" und "Magneto". Selbst Cover und Booklet sagen in ihrer Schlichtheit nichts aus und doch so viel mehr. Das Rundum-Sorgenvoll-Paket. Im Film wird deutlich: Caves Frau Susie entdeckt im Entwerfen von Kleidern die Notwendigkeit des Arbeitens als Akt der Ablenkung und Normalität, Cave lernt langsam und mühevoll diese Sichtweise zu entwickeln – und hat dabei trotzdem ein wunderbares Album aufgenommen. "Someone's gotta sing the rain, someone's gotta sing the pain."

(Stephan Müller)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Jesus alone
  • Girl in amber
  • Anthrocene
  • Skeleton tree

Tracklist

  1. Jesus alone
  2. Rings of Saturn
  3. Girl in amber
  4. Magneto
  5. Anthrocene
  6. I need you
  7. Distant sky
  8. Skeleton tree
Gesamtspielzeit: 39:42 min

Im Forum kommentieren

fuzzmyass

2021-11-12 02:46:24

Finde es deutlich besser, packender, intensiver und direkter als das überladene und überkitschte Ghosteen

Sloppy-Ray Hasselhoff

2021-11-11 13:00:34

Was saihttam sagt. Genau wissen wird es nur Cave selbst. Grübel Grübel.

saihttam

2021-11-11 12:26:31

Teilweise hat er wohl auch noch Lyrics umgeschrieben und Songs noch mal neu aufgenommen. Der Tod hatte also definitiv einen Einfluss auf Sound und Wirkung des Albums.

saihttam

2021-11-11 12:23:02

Ich glaube geschrieben war es größtenteils schon, aber noch nicht fertig aufgenommen. Ich würde vermuten, dass der Tod seines Sohnes dann schon noch in Produktion und ähnliches eingeflossen ist.

edegeiler

2021-11-11 12:18:39

Hab im Kopf, dass "Skeleton Tree" schon fertig geschrieben war, als das Unglück passiert ist, stimmt das? Weil das immer so als Trauerbewältigungswerk beschrieben wird.

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