Jóhann Jóhannsson - Orphée
Deutsche Grammophon / UniversalVÖ: 16.09.2016
Die ausweglose Schönheit
In einem Interview wurde Jóhann Jóhannsson zuletzt gefragt, ob er da ganz bei Steve Reich sei, der meinte, es reiche ihm vollkommen aus, wenn Menschen seine Musik der Schönheit wegen hören. Jóhannsson reagierte nachdenklich, natürlich wäre das für ihn in Ordnung, eine Anziehung aufgrund des Hübschen, doch wolle er etwas mehr, er wünsche sich Hörer, die versuchen seine Stücke tiefer zu durchdringen. Auch in "Orphée" lassen sich diese beide Ebenen finden, dabei bildet die Schönheit eine Firnis, unter der einiges verborgen bleibt. Sechs Jahre flossen in dieses Album, zwischenzeitlich hat sich Jóhannsson als Komponist für Filme profiliert, einen Golden Globe inklusive, auch ist er nach Berlin gezogen. Ein Ortswechsel, den der Isländer derart sensibel beantwortete, dass "Orphée" die großen Themen beschäftigen: die an sich selbst ungewohnt festgestellten Veränderungen, der eigene anstehende oder der Anderen Tod, erhoffte Wiedergeburt und sich auflösende Erinnerungen.
Wie schon bei Nick Cave oder zuletzt für Arcade Fire ist die altgriechische Orpheus-Saga eine Orientierung: Das Tragische im Moment, wenn der Sängerheld aus dem Hades steigt und sich verbotenerweise umdreht und die geliebte Euridike für immer verliert. Diese Umkehr, mal verstanden als Angst, weil Orpheus die Schritte der Seinen nicht hörte, mal als unkonzentrierte Fahrlässigkeit oder als Verführung des Unerlaubten, ist der Wendepunkt bei Jóhannsson. Er selbst beschreibt es als die Veränderung vom Dunklen ins Helle oder vom Vertrauten ins Neue, was umgekehrt genauso funktioniert. Wenn nicht oder kaum gesungen wird, wie bei diesem modernen klassischen Album, liegt die Versuchung nahe, in der Musik eine Art Sprache zu suchen und das schwer Greifbare dadurch fassbarer zu machen. Was bedeutet es, wenn der erste Ton in "Flight from the city" von einem drückend tiefen, einsamen Klavier stammt, während die letzten Noten im völligen Gegensatz dazu hell und hoch von einem Kirchenchor gesungen werden? Muss es überhaupt bedeuten?
"Orphée" kann als Ganzes so oft gehört werden, bis alle noch so scheinheilig gewichtigen Gedanken dazu verfliegen und wieder das Staunen über die großen, wundersamen Flächen aus Streichern bleiben. Dabei fasst Jóhannsson seine bisherigen Werke zusammen, weshalb es mehr ist als das, was fälschlicherweise mit Klassik verwechselt wird, wenn tonnenschwere Geigen den nächsten Blockbuster untermalen. "The drowned world" hat die elektronisch fächernden Pianos von Philip Glass. "Fragment I" und "Fragment II" nehmen den bereits erwähnten Steve Reich auf und versuchen mit wenigen Tönen auf der Orgel etwas zu transportieren. Nur was, abseits der betörenden Klänge? Wie auf Jóhannssons bisherigen Alben wiederholen sich die Melodien und Motive, die monoton gesprochenen, vorerst bezugslosen Zahlen beispielsweise in "A song for Europa" und "A deal with chaos". Welche sich als verschlüsselte Kommunikationsform zu Zeiten des Ersten Weltkriegs entpuppen, was nur wieder für die Akribie und gewollte Absonderlichkeit dieses Albums steht. Das Schöne ist hier ausweglos, wie in "By the roes, and by the hinds of the field", weil es nicht dechiffriert werden möchte, dafür aber atmosphärisch verdichtet. Verdichtung bei Jóhannsson gleicht dabei nicht zig überlagernden Instrumenten, sondern wie in diesem Stück einer Zerstückelung der Melodie und deren Wiederholungen. Ein Ton wird umgarnt von zwei vorigen, zwei auf der Tastatur folgenden.
Als Abschluss dient der mehrstimmige reine Gesang in "Orphic hymn", welcher in dieser Form wohl nur noch von David Lang geschrieben werden könnte. Dieses Stück ist überwältigend, übermächtig, herzbereichernd, es klingt wie nicht von dieser Welt oder aus dieser Zeit, wenn Ovids Text zur Orpheus-Saga vom Paul Hilliers Theater Of Voices interpretiert wird. Was diese lateinischen Zeilen bedeuten, wofür sie stehen, wird ausgeblendet. Es ist auch egal, wie verkopft der Künstler versucht sein Publikum zu beschäftigen, denn es ist reine Schönheit. Bedeutung verliert gegen Tränen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Flight from the city
- By the roes, and by the hinds of the field
- Good morning, midnight
- Orphic hymn
Tracklist
- Flight from the city
- A song for Europa
- The drowned world
- A deal with chaos
- A pile of dust
- A sparrow alighted upon our shoulder
- Fragment I
- By the roes, and by the hinds of the field
- The radiant city
- Fragment II
- The burning mountain
- De luce et umbra
- Good morning, midnight
- Good night, day
- Orphic hymn
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Quirm
2021-02-05 10:33:11
Ja, wirklich ein wunderschönes Meisterwerk. Allein der Einstieg.
dieDorit
2021-02-05 09:38:45
Ich komme immer wieder zu diesem Album zurück, einfach zeitlos schön, würde inzwischen in den Top 10 meiner liebsten Alben der 2010er landen.
qwertz
2018-02-11 22:55:12
Genau ein Jahr, bevor mich gestern die Todesnachricht erreichte, habe ich ihn live in der Elphi gesehen und war damals schwer angetan. Als bekannt wurde, dass er sowohl bei "Blade Runner 2049" als auch "Mother!" involviert, aber letztlich seine Musik nicht berücksichtigt wurde, habe ich mich schon gefragt, was die Gründe dahinter waren bzw. wie er wohl damit umgeht. Hoffentlich hat sein Tod damit nichts zu tun.
boneless
2018-02-11 18:15:33
In den Medien wird nur über seine Soundtracks gesprochen, dabei hat er auch fantastische Alben veröffentlicht
Keine Frage. Mein Favorit ist und bleibt IBM 1401, a User's Manual, ein bisweilen verwunschenes und schlicht wunderbares Meisterwerk. Aber auch Fordlandia und eben Orphee möchte ich nicht missen. Zeitlos schöne Musik, die Betonung liegt dabei auf zeitlos, denn in Johannssons Klängen verliert man sich ohne Weiteres.
saihttam
2018-02-11 01:46:52
Sehr bedauerlich und traurig! Seine Scores haben mich immer sehr berührt. Schade, dass nun keine weiteren mehr dazukommen werden. Dann muss ich mir unbedingt mal die Alben anhören.
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