Frank Ocean - Blonde

Boys Don't Cry
VÖ: 20.08.2016
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

So far ahead

Es mag nur ein kurzes Interlude auf Frank Oceans "Blonde" sein, aber es ist bezeichnend für sein Verständnis von Kommunikation und Zwischenmenschlichkeit: Eine Minute lang lässt sich der französische DJ SebastiAn in "Facebook story" über eine weibliche Bekanntschaft aus, die ihm den Laufpass gab, weil er es als sinnlos ansah, ihre Facebook-Freundschaftsanfrage anzunehmen. Wozu, wenn sie sich jeden Tag sehen? Ocean hat diesen Track nicht zufällig gewählt, er selbst löschte sich vor einiger Zeit ins Social-Media-Exil, um fortan lediglich über ein paar Tumblr-Posts mit der Außenwelt zu kommunizieren und mit der Andeutung von Releasedaten per Bibliotheksausweis – ein typischer Fall von Oceans Poesie – die gierige Anhängerschaft zu quälen. Das mit "'Cause I've been thinking 'bout forever" war doch hoffentlich nicht auf die Wartezeit für neues Material nach "Channel Orange" gemünzt? Eher sollte diese Abschirmung die Botschaft vermitteln, dass letztlich Ocean allein die Kontrolle über seinen kreativen Prozess behalten möchte.

Nach dem ergebnislosen Verstreichen diverser Veröffentlichungstermine erschien am 19. August 2016 plötzlich "Endless", angepriesen als visuelles Album. Wer daraufhin ein opulent abgestimmtes Kunstwerk aus Bild und Ton à la "Lemonade" erwartete, durfte sich allerdings gehörig verarscht fühlen. Die Musik ist nicht komplett ohne Höhepunkte – das wundervolle "Slide on me" sei exemplarisch genannt – erscheint jedoch merkwürdig kühl und distanziert. Das Gefühl wird durch das Video noch verstärkt, in welchem Ocean 45 Minuten lang in sterilem Scharzweiß beim Zurechtsägen von Holz und dem Bau einer Treppe zu sehen ist. Klar lässt sich dort etwas hineininterpretieren. Man kann es aber auch für prätentiösen Müll halten, der nur faul darauf wartet, von außen mit Bedeutung aufgeladen zu werden. Für reines Trolling zu aufwändig, für ein vollwertiges Album zu schwach. Wie heißt es dort in den letzten Sekunden per Roboterstimme? "This Internet Scheiß." Wie wahr, wie wahr.

Der soeben zitierte Part schlägt die Brücke zum nun aber wirklich neuen Frank-Ocean-Album "Blonde", welches etwas mehr als 24 Stunden nach dem visuellen Vorspiel das Licht der Welt erblickte. Das Cover ziert ein Werk des deutschen Künstlers Wolfgang Tillmans, von welchem auch jener ominöse "Endless"-Track stammt. Und "Blonde" ist ohne Zweifel ein ausformuliertes Werk, welches wieder in die Gefühlswelt des Eigenbrötlers Ocean einlädt und die tagträumerische Stimmung vermittelt, die schon "Channel Orange" großartig machte. Der visuelle Vorbote war also offenbar nur ein schwacher Teaser aus Outtakes. Besser als mit "Nikes" könnte man dagegen kaum einsteigen: Als kurzfristige Standalone-Single irriterte der Track noch, auf dem Album ist er der eingängige Einstiegspunkt, wenn ein zeitweise albern vor sich hersingender, hochgepitchter Frank Ocean nach gut drei Minuten der "echten" Variante weicht und die Emotionen den Hörer kalt erwischen. "I'm not him / But I mean something to you." Es soll nicht das letzte Wechselbad der Gefühle bleiben.

"Blonde" wird in der Folge allerdings reduzierter und sperriger. Oft werden die Vocals lediglich von einer Gitarre oder einem einsamen Keyboard begleitet, die Opulenz eines "Pyramids" sucht man vergeblich. Ocean ist auch nach vier Jahren der gleiche sensible Denker, man gewinnt jedoch den Eindruck, dass er hier mehr als zuvor seinen inneren Impulsen folgt, zu Lasten von offensichtlich strukturierten Hits. Im besten Fall führen diese ihn zum verträumten Klavier von "Pink + white" oder dem minimalistischen, Elliott Smith zitierenden "Seigfried" – die merkwürdige Schreibweise des alten germanischen Helden fällt wohl unter künstlerische Freiheit. Doch in Oceans Seele geht es tumultartig zu: Zwischen "Nights" und "White Ferrari" schlägt die Platte mit kurzen Stücken einen Zickzack-Kurs ein. Der gastierende André 3000 kanalisiert im aufbrausenden "Solo (Reprise)" ganz auf sich gestellt seine aufgestaute Energie, das noisig-konfuse "Pretty sweet" folgt auf dem Fuße und das Album droht zu zerbersten: "Now, to the edge I'll race you."

Es benötigt Durchläufe, bis sich alles erschließt – das Ausstrecken in diverse Stilrichtungen, die scheinbare Strukturlosigkeit vieler Songs. In den kunstvoll platzierten Details von "Blonde" kann man sich andererseits wunderbar verlieren. Hat man die Beatles-Referenz im hübsch-kitschigen "White Ferrari" erkannt, fällt vielleicht als nächstes Kendrick Lamar auf, der in "Skyline to" ins Ohr flüstert. Und die Familie hat immer einen Platz: Oceans Mutter gibt nach ihrem Auftauchen auf "Not just money" erneut Ratschläge in "Be yourself", alte Aufnahmen seines jüngeren Bruders Ryan Breaux über einer Klangcollage finden sich zudem im Hidden Track. Frank Ocean zeigt sich einmal mehr als einer der vordenkenden Künstler der Gegenwart, dessen Ästhetik und emotionale Ausdrucksweise unverwechselbar bleiben. Auch wenn "Blonde" sich als schwierigerer, eigensinnigerer Brocken als "Channel Orange" entpuppt, gibt es die entgegengebrachte Zuwendung um ein Vielfaches zurück. Man muss den Songs nur etwas Zeit entgegenbringen. "Or do you not think so far ahead?"

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Nikes
  • Pink + white
  • Self control
  • Solo (Reprise)
  • Seigfried

Tracklist

  1. Nikes
  2. Ivy
  3. Pink + white
  4. Be yourself
  5. Solo
  6. Skyline to
  7. Self control
  8. Good guy
  9. Nights
  10. Solo (Reprise)
  11. Pretty sweet
  12. Facebook story
  13. Close to you
  14. White Ferrari
  15. Seigfried
  16. Godspeed
  17. Futura free
Gesamtspielzeit: 60:24 min

Im Forum kommentieren

poser

2020-10-11 15:07:34

*hust* James Blake *hust*

Daniel

2020-10-11 14:22:22

Ob man Blonde mag oder nicht. Der aufmerksame Beobachter (oder Lauscher) kann nicht abstreiten, dass in den letzten 10 Jahren Alben wenig Alben erschienen sind, die einen derartigen Einfluss auf Pop-Musik und -kultur hatten.

Ich finde nicht jedes Lied ist zu 100% ein Meisterwerk. Aber der Sound des gesamten Albums ist ein Geniestreich. Meiner Meinung nach. ;)



Loketrourak

2020-10-11 11:58:43

In dieser kleinen Reihe von Büchern aus der KiWi Musikbibliothek "xyz semipromi über abc Bandoderkünstler" gibt es eines von Sophie Passmann über Frank Ocean, und Blonde spielt da eine große Rolle. Sehr schön geschrieben und handlet unprätentiös ua auch ihre depressive Angststörung und vielerlei biografische Details. Nice Read!

Mister X

2020-10-10 01:53:35

Habe für mich die Letzte Zeit echt herausgefunden dass das Album ein toller Begleiter bei Einsamkeit ist. Wobei ich auch nicht bestreiten will dass es diese nicht auch anfeuern würde. Bin gerade beruflich unterwegs. Heisst : rund um Deutschland, Österreich und Schweiz Meetings und fast jeden Abend in einem fremden anderen Hotel. Einsamkeit vorprogrammiert. Für mich ohne das Album gepaart mit Blick von oben auf die Stadt undenkbar das auszuhalten.

Manchmal kann Musik so viel mehr sein.
Danke für deine Zeit Frank.

MopedTobias (Marvin)

2019-12-22 19:43:21

Da kann ich dir zumindest so weit entgegenkommen, dass die Sache in speziell diesem Thread überzogen war/ist... Aber in der Summe staut's sich halt.

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