Steve Gunn - Eyes on the lines

Matador / Beggars / Indigo
VÖ: 03.06.2016
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

American beauty

"You were lost / On the road from a different way." Die ersten Worte auf Steve Gunns neuem Album "Eyes on the lines" – seinem ersten auf Matador – bereiten den Weg vor für das, was den Hörer in den kommenden knapp 40 Minuten erwarten soll. Gunn, der in den vergangenen Jahren nicht nur Teil in Kurt Viles Backing-Band The Violators war, sondern unter anderem auch mit Hiss Golden Messenger oder den Old-Timern von The Black Twig Pickers das Mikro teilte, hat scheinbar seinen Lester-Burnham-Moment erreicht. Die Figur aus Sam Mendes' Filmdebüt "American beauty", sagenhaft und unvergessen gespielt von Kevin Spacey, hat genug vom Leben, wie es immer war und immer bleiben soll. Lester bricht aus seinem Alltag aus, er übernimmt die Kontrolle und wirft sie dann doch mit voller Absicht über Bord. "Eyes on the lines" ist Gunns Pontiac Firebird, es ist sein privates Fitnessstudio in der Garage, es ist der zerspringende Spargelteller an der Esszimmerwand. "Eyes on the lines" ist Gunns tiefes, erholtes Aufatmen.

Vor allem ist es aber sein zugänglichstes Werk – und sein mit Abstand bestes. Schon der Vorgänger, das 2014 veröffentlichte "Way out weather", deutete an, dass Gunn weitaus mehr ist als nur ein verkopfter Gitarrist. Auf seinem neuen Album geht er den Schritt zu Ende. Der sechsminütige Opener "Ancient Jules" steht stellvertretend für die insgesamt neun Songs – Gunn ist nicht mehr verloren, wie er in der ersten Zeile singt, sondern das genaue Gegenteil: frei. "Take your time, ease up and waste the day", singt er über eine von zwei Gitarren geführten Melodie, einer tiefen und einer hochgepitchten, die sowohl für ordentlich Druck als auch für die gleichzeitige Erlösung sorgen. Natürlich verschwendet Gunn hier weder den Tag noch Zeit, dennoch lässt er der instrumentalen Seite des Songs ihren Lauf. Alles kann, nichts muss. Das wirkt mitunter schon ausschweifend, besonders im letzten Viertel. Und entspannt. Und wird auch deshalb, ähnlich wie der im Haus kiffende Lester Burnham, von Sekunde zu Sekunde immer besser.

"Eyes on the lines" ist der Soundtrack eines Nordamerikas, das es eigentlich nicht gibt. Es ist holzfällerhemdtragende On-the-road-Musik mit Sepia-Schleier, ein Hauch Sechzigerjahre-Stimmung hier, ein über hohe Berge hinwegfliegender Vogel da, das Sinnbild von Freiheit und Schönheit und Leben. Das ist Alltagsflucht, und die muss manchmal sein, und derzeit ist sie bitternötig: Zum vollkommen relaxten "Nature driver", das ohne Anstrengung daherkommt, aber dennoch alles andere als kraftlos ist, lassen sich zumindest die kleineren Sorgen für einen Moment vergessen. Im verspielten "Heavy sails" spürt man den Wind in den Haaren auf der Schiffsfahrt ins Ungewisse und mit der Vorabsingle "Conditions wild" öffnen sich gar verschlossen geglaubte Türen: "When you read between the lines / The space will be untied", dazu der vielleicht radiofreundlichste Refrain in Gunns gesamter Karriere – auf "Eyes on the lines" ist eben alles möglich. Oder zumindest scheint es so.

Selbst Lester Burnham wusste eben, und wenn es tief im Unterbewusstsein war, dass es Grenzen gibt. Die verführerische Femme fatale, die sich dann doch als Jungfrau entpuppt, wird nicht mal eben auf dem heimischen Sofa um ihre pure Unschuld gebracht. Und natürlich kündigt niemand wirklich seinen Job, um das große Glück als Mitarbeiter einer Fast-Food-Kette zu finden. Aber spielen darf man mit dem Gedanken. Daher wirkt auch der Kontrast, den das melancholische "Park bench smile" kurz vor Schluss bietet, umso stärker und nachhaltiger: Weg von der Natur, in der so viele Songs des Albums zu spielen scheinen, geht es zurück in die Großstadt, zurück zu den Menschen, zurück zum Alltag. Das Ende blickt dann, egal ob von Häusern oder Bäumen umringt, dennoch Richtung Sonnenuntergang. "Ark" ist der ausgeglichene, perfekte Abschluss eines Albums, von dem man nicht wusste, dass man es brauchte – bis man es gehört hat. Natürlich wünscht man Gunn nicht das Ende von Lester Burnham. Aber mindestens so viel Frieden.

(Jennifer Depner)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Ancient Jules
  • Park bench smile
  • Ark

Tracklist

  1. Ancient Jules
  2. Full moon tide
  3. The drop
  4. Conditions wild
  5. Nature driver
  6. Heavy sails
  7. Night wander
  8. Park bench smile
  9. Ark
Gesamtspielzeit: 41:20 min

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Rockonaut

2016-08-08 15:08:41

Tolle gefühlvolle Rezension....die Worte treffen mein Hörerlebniss, danke

Obrac

2016-07-20 15:15:22

Kann auch nichts. Was der Rezensent da gehört haben will...? Hier wird Armin intern eine Abmahnung aussprechen müssen.

crispin1

2016-07-20 13:59:58

Ich hab dem Album jetzt einen Monat lang Chance um Chance gegeben, aber für mich bleibt bis auf "Ancient Jules" einfach nichts hängen.

Schade!

Armin

2016-06-23 21:03:08

Frisch rezensiert. "Album der Woche"!

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