Beyoncé - Lemonade

Columbia / Parkwood / Sony
VÖ: 23.04.2016
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Das Private ist politisch

Als Event betrachtet konnte Beyoncés neues Werk eigentlich nur verlieren: Ihr 2013 erschienenes Überraschungs-Ei "Beyoncé" war nicht nur dank Über-Nacht-Veröffentlichung ein Meilenstein, auch das Visual-Album-Format und die schiere Qualität der Songs machten es zu ihrem bis dato mutigsten und besten Album. Zwei Jahre später zeichnete sich ab: Beyoncé Knowles-Carter hat wieder etwas vorbereitet, und dabei variiert: Den Release zwar hatte sie angekündigt, aber nicht den Termin der platzenden Bombe. Am Abend des 23. April 2016 war es soweit, ihr sechstes Album "Lemonade" wurde an die Öffentlichkeit gelassen – abermals zum Hören und zum Sehen. Diesmal war die visuelle Komponente zuerst als HBO-Special im US-TV zu bewundern, kurz darauf wurde der Audio-Teil vorerst exklusiv bei Tidal veröffentlicht. Ehemann Jay-Z muss ja schließlich auch von irgendetwas leben. Die neuen Songs spiegeln Stationen von Beyoncés Vision der Trauerbewältigung nach einer persönlichen Enttäuschung wider, entsprechend sind die visuellen Episoden mit Gefühlszuständen wie "Denial", "Emptiness" oder "Hope" betitelt – genügend Material also für Versuche der Enträtselung und ein Festmahl für Magazine und Blogs.

Auf die falsche Fährte führte die vorab veröffentlichte Single "Formation", ein selbst für ihre Verhältnisse ungewohnt aggressiver Rundumschlag. Für schwarzes Selbstbewusstsein, für die Frau in der dominierenden Rolle in Beziehung und Bett, als Verteidigung ihrer Machtposition im Business. Auf "Lemonade" ist "Formation" jedoch eher ein Anhängsel, eine Facette, losgelöst von den restlichen Songs. Auch wenn das Album vielerorts primär als weiteres Emanzipations-Manifest der schwarzen Frau gefeiert wird: Hier ist vor allem das Private politisch, das Konzept führt zu den bisher persönlichsten Einsichten in das Leben der Queen Bey. Damit ist kein Bettvergnügen gemeint. Die Protagonistin auf "Lemonade" ist bitter verletzt und hat ordentlich Wut im Bauch. Nachdem auf "4" und "Beyoncé" die spirituellen und koitalen Freuden einer Ehe Thema waren, kommen nun die Szenen auf den Tisch, in welchen Eifersucht und Streit den Kampf für das weitere Miteinander erfordern. Gerüchte über Jay-Zs angebliche Untreue bekommen durch die Bank weg neues Pulver. "You can taste the dishonesty / It's all over your breath" sind die ersten Zeilen des Albums, zwei Tracks später in "Don't hurt yourself" wütet Carter: "And keep your money, I got my own / Get a bigger smile on my face, when I'm gone." Dazu ein mächtiges Sample aus Led Zeppelins "When the levee breaks", Jack White im Refrain – kaum verwunderlich, dass das entsprechend energische Video mit "Anger" betitelt ist. Man könnte fast meinen, die Dame verliert die Kontrolle – doch es tut außerordentlich gut, ihr dabei zuzuhören und zuzusehen.

Den Gipfel der Giftigkeit stellt "Sorry" dar, vor allem textlich. "Today I regret I put that ring on / He always got them fucking excuses", wird in Richtung Partner gespuckt, bevor am Ende die Fantasie spruchreif wird, die Zerrüttung hinter sich zu lassen und mit dem Töchterchen in die Freiheit zu entschwinden. "What's worse, looking jealous or crazy / Or like being walked all over lately?" fragt sie im nur oberflächlich beschwingten Trap-Reggae-Stück "Hold up" und schwingt im überdrehten Clip dazu den Baseballschläger gegen Autos, Fensterscheiben und Kameras – bevor der Zuschauer selbst dran glauben muss. Ob die angestaute Aggression tatsächlich gegen Jay-Z gerichtet ist und wie ernst gemeint das alles ist, bleibt bislang Spekulation – auch angesichts der Unklarheit, zu welchem Grad die Lyrics überhaupt von Beyoncé selbst stammen. Doch Mrs. Carter ist zu professionell und erfahren, als dass sie nicht wüsste, inwiefern Texte dieser Art auf ihr Privatleben gemünzt werden. Erfreulich ist, dass der müde gewordene Gatte dieses Mal wenigstens kein Feature abgestaubt hat und nur im Video zu "Sandcastles" als scheinbare Versöhnungsgeste auftaucht.

Das erwähnte "Hold up" ist ein Musterbeispiel für die zahlreichen Referenzen, die "Lemonade" lässig zulässt und es stellenweise leichter erscheinen lassen, als es Releaseaufwand und Thematik erlauben. Andy Williams' "Can't get used to losing you" ist programmatisch passend zu hören, prominent zitiert wird "They don't love you like I love you" aus Yeah Yeah Yeahs' "Maps" – und irgendwo dazwischen bekommt Father John Misty noch einen Songwriting-Credit. Stilistisch geht "Lemonade" all in: "Daddy lessons", die Abrechnung und Versöhnung mit ihrem entfremdeten Vater Mathew Knowles, spielt Country auf einer Blockparty, der Opener "Pray you catch me" lässt die Beteiligung von Leisetreter James Blake deutlich heraushören, bevor dieser in "Forward" selbst ans Mikro darf. Zudem würden andere töten für ein großartig arrangiertes Feuerwerk wie "All night", wenn Beyoncé rappt, singt und zur schlussendlichen Versöhnung die Bandbreite ihrer grandiosen Stimme spielen lässt. Diese anti-agressive Wohltat von Song wäre ein besserer Abschluss gewesen als "Formation". Freiheitskämpfer Kendrick Lamar pusht davor mit einigen Zeilen in "Freedom" die Musik auf die Black-Lives-Matter-Demo, für die der Marschrhythmus entsprechend knallt. Einer der wenigen Augenblicke, in denen die Platte auch ihre gesellschaftliche Mission aufdeckt. Am Ende des Tracks klärt sich auch der Albumtitel auf: Jay-Zs Großmutter bringt die Notwendigkeit, das Beste aus dem Gegebenen zu machen, auf ihrem 90. Geburtstag auf den Punkt: "I was served lemons / But I made lemonade."

Trotz der abermals immensen Schreiber- und Produzentenzahl bemerkt man das Herzblut, welches in das Gesamtkonzept, die Videos und den Seelenstriptease geflossen ist. "Lemonade" zeigt erneut, warum diejenigen falsch liegen, die in Beyoncé noch immer die Trällertante aus Destiny's-Child-Tagen sehen. Längst ist sie zur großen Künstlerin mit eigener Vision gereift, die insbesondere auf diesem Album ihre Message nicht offen vor sich legen muss. Stattdessen kippt sie ins Hysterische, Unprofessionelle und wäscht ihre dreckige Wäsche öffentlich. Sie steht nicht über den Dingen, sondern spricht Rachegedanken aus, zweifelt an sich und anderen. Das ist selbstverständlich alles kontrolliert und inszensiert, aber es reißt mit und berührt in seiner Kompromisslosigkeit und Konsequenz. Das nach der Superbowl-Show und "Formation" weitläufig erwartete direkte Statement bleibt aus, "Lemonade" ist ambivalent, vielschichtig und zur tieferen Interpretation offen. In jeder Hinsicht starker Tobak.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Hold up
  • Freedom (feat. Kendrick Lamar)
  • All night

Tracklist

  1. Pray you catch me
  2. Hold up
  3. Don't hurt yourself (feat. Jack White)
  4. Sorry
  5. 6 inch (feat. The Weeknd)
  6. Daddy lessons
  7. Love drought
  8. Sandcastles
  9. Forward (feat. James Blake)
  10. Freedom (feat. Kendrick Lamar)
  11. All night
  12. Formation
Gesamtspielzeit: 45:49 min

Im Forum kommentieren

Felix H

2021-01-22 15:14:52

Das ist schon echt groß, mehr aus einem Guss wie der Vorgänger, der dafür mehr Einzelhits hat.

Affengitarre

2021-01-22 14:51:41

Toll jedenfalls, wie vielseitig sowohl die Songs als auch Beyoncés Gesang insgesamt ist und das Album trotzdem (wohl auch durch den Inhalt) nicht wie Stückwerk wirkt. Features auch sehr stimmig gewählt.

VelvetCell

2021-01-22 12:09:17

Ärzte hören.

boneless

2021-01-22 12:07:47

Was macht sie denn gerade?

Affengitarre

2021-01-21 23:04:11

Haha, aber daran muss ich auch die ganze Zeit beim Hören denken. :D

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