
Tim Hecker - Love streams
4AD / Beggars / IndigoVÖ: 08.04.2016
Zum Urschreien komisch
Am Anfang war kein Wort. Am Anfang war die Stimme. Wie selbstverständlich hat sich ihr Klang überall eingeschlichen: das öffentliche Leben, Kultur, Dasein– dies alles türmte sich über die Jahrhunderte zu einer Kakophonie auf. Babylonisches Wortgewirr: Hauptsache ihr habt Spaß, ich liebe es, der King des Monats. Vor zwölf Jahren dekonstruierte Björk auf "Medúlla" die Stimme, zerlegte sie in ihre Einzelteile, ihre Töne, ihre Klänge. Die meisten Hörer ließ das eher ratlos zurück. Mit "Love streams" wählt Tim Hecker einen ähnlichen Ansatz, allerdings zerlegt das Wunderkind des modernen Ambients mal eben alles mittels Software.
Den Sound für dieses Album lieferte der franko-flämische Komponist Josquin des Prez – der allerdings bereits in der Renaissance lebte, liebte und das letztlich das Zeitliche segnete. Dessen Stücke nahm Hecker und modifizierte, zerstreute, verlangsamte sie. Oft bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Allerdings bohrt "Violet monumental II" sich ziemlich deutlich in sakrale Sphären vor. Dass Hecker dieses Album immer wieder als Kirchenmusik bezeichnete, passt in diesem Moment ziemlich gut. Nur „Obsidian counterpoint“ zieht die Ohren zur Eröffnung erst einmal durch den Klingelbeutel. Einen Teil des Albums nahm der Künstler aus Los Angeles in Reykjavik auf, neben Krachkollege Ben Frost half auch ein isländischer Chor aus. Einzelne Fetzen ihres Gesangs liegen zerstreut auf den Songs. "Music of the air" setzt sich zunächst in steten zwei Minuten zusammen, bevor sich der brachiale Sound schließlich doch wieder durchsetzt. Immer wieder obsiegt das Gewaltige, das Große auf diesem Album. Die Sprache hat da dann schon längst ihre Kraft verloren. Es geht weniger um Worte oder um Sätze, sondern um Bedeutung.
Spätestens wenn sich "Black phase" aus seinen einzelnen Teilen zusammenzieht, wenn der Chor klarer wird, wenn die Stille wie eine dunkle Vorahnung hinter dem ganzen Song schwelt, zerbrechen Gedächtnisse, knacken Synapsen, zerfallen Konzepte. Hier mischt sich am deutlichsten Doom Metal unter Heckers Entwurf von Ambient. Zogen sich viele verschiedene Künstler in den letzten Jahren in die Felder Dark Jazz oder cineastischen Bombast zurück, hat dieser Sound kein Interesse an Bildern oder Melancholie. In etwas mehr als 40 Minuten schreddert Hecker die Musik, spannt sie bis zum Zerreißen. Und aus diesen Resten baut er seine eigenen Songs auf, integriert hier und da noch ein klassisches Instrument ins elektronische Korsett. Das sich in den Kompositionen von des Prez widerspiegelnde Schönheitsideal der Renaissance findet sich hier nicht mehr wieder, das Epochale eines Chors unterschlägt er hier. Und schafft daraus Musik, brachial und fragil, unverwechselbar und durchsichtig. Zum letzten Stündlein der Erde darf bitte dieses Album laufen. In Endlosschleife. Es wäre zum Urschreien komisch.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Music of the air
- Violet monumental II
- Black phase
Tracklist
- Obsidian counterpoint
- Music of the air
- Bijie dream
- Live leak instrumental
- Violet monumental I
- Violet monumental II
- Up red bull creek
- Castrati stack
- Voice crack
- Collapse sonata
- Black phase
Im Forum kommentieren
Fiep()
2017-07-11 12:49:45
Auch wen ich ihn liebe und Ravedeath / Virgins tolle werke sind, hab ich bisher keine zeit gefunden für dieses Album.
Jetzt dann doch: es ist okay, aber trifft einfach nicht die kräfte die virgins trifft.
Er schaft es nicht, die gleiche Spannung auf zubauen, und es wirkt, als ob die Ideen etwas knapp waren. interessant, aber doch etwas...fast unspannend.
Armin
2016-04-20 22:25:31
Frisch rezensiert.
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