
Mogwai - Atomic: A soundtrack by Mogwai
Rock Action / PIAS / Rough TradeVÖ: 01.04.2016
Die Physiker
Dass die kleinsten Teile äußerst verheerende Schäden anrichten können, ist eine der schmerzhaftesten Lektionen, die die Menschheit im 20. Jahrhundert erleben musste. Am 6. August 1945 wurde durch US-amerikanische Streitkräfte zum ersten Mal im Krieg eine Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima abgeworfen. Drei Tage später folgte ein zweiter Abwurf auf Nagasaki. Nicht nur starben über 90.000 Menschen unmittelbar durch die Druckwelle und die Hitze der Explosionen, vor allem die Folgeschäden durch die radioaktiven Strahlungen wirken bis weit über den heutigen Tag nach. Fehlbildungen und bestimmte Krankheitsbilder treten ebenso auf wie Umweltschäden in der Region rund um die Einschlagsstellen. Das alles wurde verursacht durch die Spaltung von Atomkernen mit einer Größe, die nicht einmal einen Nanometer umfasst. Zum 70. Jahrestag dieser Katastrophen sendete die BBC 2015 eine Dokumentationsreihe über Geschichte und Stand der Atomforschung, die sich mit der Gefahr durch nukleare Waffen, aber auch mit dem Fortschritt im medizinischen Bereich aufgrund von Strahlentherapiemöglichkeiten beschäftigt. Ihr Auftakt "Storyville: Atomic – Living in dread and promise" wurde von der Postrock-Institution Mogwai klanglich untermalt. Eine passende Wahl, um ein so existientielles und ergreifendes Thema musikalisch umzusetzen.
"Atomic: A soundtrack by Mogwai" fasst nun diesen Score in zehn Tracks zusammen und ist bereits Mogwais vierte Auftragsarbeit zur Begleitung visueller Unterhaltung – in ihrem Œuvre finden sich bereits das stoische, schleppende "Zidane: A 21st century protrait", das gemeinsam mit Clint Mansell und Kronos Quartet aufgenommene "The fountain" sowie die großartigen Miniaturen für "Les revenants". Entsprechend dem Anlass entpuppt sich "Atomic" als Mogwais bisher am dramatischsten inszeniertes Album. Das Zurschaustellen der Bandbreite wie auf "Hardcore will never die, but you will" oder "Rave tapes" findet nicht statt, der Score fokussiert ein homogenes Stimmungsbild und präsentiert sich als geschlossene, massive Einheit. Fast in jedem Stück wird Bombast aufgefahren, die Musik schreitet majestätisch und langsam voran, auf hohes Tempo verzichten die Schotten grundsätzlich. Aus dem Gefühlsspektrum außerdem gestrichen: jegliche befreiende Euphorie, wie man sie aus "Mogwai fear Satan" oder "White noise" kennt. "Atomic" erinnert in seiner Verzweiflung vielmehr an das Karriere-Highlight und den Stimmungstiefpunkt "Happy songs for happy people", dessen Titel bis heute die treffendste Verkörperung von Galgenhumor bleibt.
Vocals werden auf "Atomic" komplett ausgespart, ohnehin noch nie ein wesentliches Element des Bandsounds. Die Instrumentierung ist zwar nah am letzten Studioalbum "Rave tapes", das Ergebnis endet allerdings an einem anderen Ort. Der dort angedeutete Einzug von Leichtigkeit fällt weg, stattdessen schaffen sie mit "Pripyat" so etwas wie den noch böseren Bruder von John Williams' "Imperial march" und treten in "Scram" kräftig auf den Verzerrer. "Are you a dancer?" imitiert die weinende Violine aus den Stücken von Godspeed You! Black Emperor so gut, dass jeden Moment der erdrückende Eröffnungsmonolog aus deren Debüt "f#a#∞" erwartet wird. Ein erhabeneres Bild zeichnet der Opener "Ether", welcher in diesem Kontext als durchaus optimistischer Einstieg durchgeht. Die Auswahl von Höhepunkten aus "Atomic" fällt generell allerdings schwer, es tritt mehr als kohärente Komposition auf, die am Stück gehört werden will.
Das Album funktioniert eindeutig schlechter am helllichten Tag, wo es wenig von seiner Anziehungskraft entfalten kann. Besser klingt es dagegen im abgedunkelten Wohnzimmer, im verregneten Taxi oder beim Nachtspaziergang. Es ist Musik für düstere Stunden, die sich weniger aus den hoffnungsvollen Auswegen speist, welche die Dokumentation in Teilen anbietet. Stattdessen überrollt sie häufig mit apokalyptischer Schwere und orientiert sich an der zerstörerischen Kraft der Atomwaffen. Deshalb zeigt auch das Cover ein brodelndes, bedrohliches Bild der Sonne, deshalb heißen die Songtitel "U-235", wie das gefährliche Uran-Isotop, oder "Little boy" und "Fat man", benannt nach den Bombentypen, die bei den Abwürfen verwendet wurden. Der Gedanke, dass die Menschheit über Kenntnis und Mittel verfügt, um den Planeten in die Luft jagen zu können, ist unheimlich und beängstigend. Das wissen Mogwai und haben mit "Atomic" den bedrohlichen Soundtrack zu diesen Szenario.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Scram
- Pripyat
- Are you a dancer?
Tracklist
- Ether
- Scram
- Bitterness centrifuge
- U-235
- Pripyat
- Weak force
- Little boy
- Are you a dancer?
- Tzar
- Fat man
Im Forum kommentieren
Mr Oh so
2016-05-15 20:43:16
Irgendwie ist mir das Album zu programmatisch. Das Thema setzen sie wirklich hervorragend in Musik um, alles "strahlt". Aber trotz der Strahlung werd ich irgendwie nicht warm damit. Es berührt mich nicht so wirklich.
carpi
2016-04-16 21:48:24
"...die Musik schreitet majestätisch und langsam voran..." - das passt gut, nur reichts bei mir heute leider nicht mehr für den empfohlenen Nachtspaziergang. Jedenfalls ist es ein schwerer Brocken und ein sphärisches Werk, zu dem ich gleich mehr Zugang hatte, als es bei der neuen "Explosions in the sky" der Fall war.
Thanksalot
2016-04-02 11:54:17
Da kann ich nur zustimmen. Es könnte auch als reguläres Album durchgehen. Der Sound von Rave Tapes wird quasi perfektioniert und doch erinnert es mich mehr an die Hardcore, zumindest vom Aufbau der Songs her. Alles ist etwas epischer angelegt. Man sollte jedenfalls keine schnellen oder einfach gehaltene Rocker wie San Pedro oder Hexon Bogon erwarten, denn die gibt es schlichtweg nicht.
Von "U-235", der nur schwer in die Gänge kommt, sollte man sich nicht gleich abschrecken lassen. Zusammen mit "Weak Force" und "Are You A Dancer?" für mich auf jeden Fall mit der schwächste Track. Aber vielleicht liegt es auch nur an den Restsongs, denn die sind durchweg großartig. Absolute Knaller sind "SCRAM", "Bitterness Centrifuge" und "Pripyat". Das sind Mogwai, wie ich sie am liebsten habe.
Als i-Tüpfelchen gibt es noch eine Produktion, wie man sie sich nur wünschen kann. Ich glaube wirklich, dass Mogwai nie besser geklungen haben. Glasklar und druckvoll. Die Musik hat enorm viel Platz zum Atmen. Obwohl mitunter viel los ist, geht nichts unter, alles hat seinen Platz, einfach nur toll. Unbedingt über Kopfhörer hören.
Jedem, dem die letzten Werke auch zusagten, kann ich Atomic nur empfehlen. Es spielt auf jeden Fall ganz oben in der Diskografie mit, trotz "Soundtrack-Status".
Herder
2016-04-01 22:03:05
Wow, ist doch sehr gut, das Album! Und von einem Album würde ich hier durchaus sprechen. Toll zu hören, wie sie sich und ihren Sound immer wieder verschieben und umbauen und dennoch unverkennbar Mogwai bleiben. Das Album wird mich sicherlich eine Weile begleiten und beschäftigen.
The MACHINA of God
2016-03-24 15:33:15
Verlink den lieber, statt hier alle blöd zu machen.
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