Jochen Distelmeyer - Songs from the bottom Vol. 1

Four / Sony
VÖ: 12.02.2016
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Porentief rein

Böse Zungen aus der Schlussredaktion behaupten, sie bekämen Ganzkörperpickel, wenn sie Jochen Distelmeyer auf Englisch singen hören. Das muss man sich mal vorstellen. Vielleicht lässt man es aber auch besser sein. Das Setting dieser Tage ist jedenfalls folgendes: Distelmeyer, einst Frontmann von Blumfeld und mittlerweile Buchautor, hat für sein zweites Solo-Album sechs Jahre gebraucht und dafür keinen einzigen Song selbst geschrieben. Er covert. Lana Del Rey. Britney Spears. Avicii. Uff. Aber auch: Joni Mitchell. Aztec Camera. Radiohead. Was sich jetzt erstmal recht wahllos und beliebig liest, wirkt letztlich wie eine große Mutprobe. Kann ein Mann allein mit seiner Gitarre und seiner markanten Stimme scheinbar willkürlich gewählte Songs zu einem kohärenten Album verschnüren? Wollen Sie die Antwort wissen? Er kann.

Dabei klingt Distelmeyer grundgelassen, auch wenn die Stimmung meist in melancholischen Tönen schwingt. "Just like this train", im Original natürlich von Joni Mitchell, wird in der Distelmeyer'schen Interpretation zu einem sanften Folksong der Marke Nick Drake: ein Vergleich, der nur scheinbar zu hoch greift. Stets aufs Neue gelingt es dem gebürtigen Bielefelder, eine Intimität zu schaffen, von der die zwölf Stücke profitieren. Sie werden nicht mehr nur als Coverversionen aufgenommen, sondern entwickeln ein Eigenleben. Distelmeyer fügt ihnen ungeahnte Facetten hinzu und bringt dabei so grundverschiedene Künstler wie Al Green und Avicii auf einen Nenner. "Songs from the bottom Vol. 1" ist Zeugnis eines spannendes Selbstversuches, der als solcher äußerst geglückt ist.

Einzig und allein an Radiohead verhebt sich der gebürtige Ostwestfale etwas: "Pyramid song" wirkt inmitten all der strahlenden Pop- und Folknummern zu blass und ängstlich, um seine hypnotische Wirkung zu entfalten. Ein besseres Händchen beweist er bei "Video games" und "Toxic". Aus den zwei ohnehin anerkannt guten Charthits bastelt er seine eigenen Interpretationen, ohne die originäre Hymnenhaftigkeit zu verwässern. Die bei einem solchen Projekt drohende Gefahr, peinlich, käsig oder gar anbiedernd zu wirken, umschifft er dabei großräumig. Dieses Coveralbum zeigt indes, wie breit die musikalischen Interessen Distelmeyers gestreut sind. Berührungsängste gibt es auf dieser Platte keine. Egal, ob das beinahe totgenudelte "Bitter sweet symphony" oder ganz sicher totgenudelter Stadion-Electro – je größer die Gefahr zu scheitern, desto lustvoller lässt sich Distelmeyer darauf ein.

Viel benötigt der Sänger dabei nicht: Er arrangiert die Stücke meist karg und reduziert, legt den Kern der Originalsongs frei und inszeniert sie als Lagerfeuer-Songs, ohne dabei ins Pathetische abzudriften. "This old road", ursprünglich eine Komposition des amerikanischen Country-Grandseigneurs Kris Kristofferson, wird von Distelmeyers warmem Timbre getragen, eine einsame Akustikgitarre begleitet ihn, viel mehr ist nicht nötig. "Songs from the bottom Vol. 1" verkommt so nicht nur zur Leistungsschau des vitalen Cover-Artisten Jochen Distelmeyer, sondern kann auch – und vielmehr sogar – als ein Statement gehört werden: Ein guter Song ist ein guter Song ist ein guter Song. Egal, ob als global inszenierter Welthit oder, ein paar Nummern kleiner, als lauschiger Akustik-Pop. Wem das nicht behagt, dem sei von dieser Stelle aus versichert: Das nächste Gesichtswasser geht aufs Haus.

(Kevin Holtmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Just like this train
  • Video games
  • Toxic
  • This old road

Tracklist

  1. Just like this train
  2. On the avenue
  3. Video games
  4. I read a lot
  5. Pyramid song
  6. Toxic
  7. Let's stay together
  8. I could be the one
  9. Turn turn turn
  10. Bitter sweet symphony
  11. This old road
  12. Beautiful cosmos
Gesamtspielzeit: 45:40 min

Im Forum kommentieren

have you ever been down?

2017-04-30 23:41:02

manche lieder halte ich mittlerweile für besser als das original. ;) "turn turn turn" lief vorhin als original im oldie-radio und ich musste sofort wieder an distelmeyers coverversion denken: jochen gewinnt. ^^

"bittersweet symphony" hätte er auch nicht lässiger abdecken können.

wann zur hölle kommt endlich vol. 2??! :)))))

elbow

2017-01-11 03:18:30

Hat er wirklich gut gemacht, der Jochen.

Aztecs Cameras "On the avenue" hat er sensationell "aufpoliert", das Ganze klingt jetzt viel runder und geht runter wie Öl. Herrlich! So ein Talent, so formidabel unpeinlich zu covern muss man auch erst mal haben.

Beam76

2016-12-23 19:59:01

Also, es gibt ja so viele international bekannte Bands aus Europa, die Englisch singen, obwohl es nicht ihre Muttersprache ist. Klar ist es kein Problem, dass auch JD mal was auf Englisch macht.
Aber für mich gehören Deutsch und Jochen Distelmeyer zusammen. Ich liebe sein Deutsch, seine Stimme und seine eigenen Songs. Warte auf sein nächstes Album! Englische Coverversionen höre ich mir lieber auf der Platte "Cover me" von Nena an.

Deutsch-Popper

2016-12-23 19:06:31

Richtig, richtig gut!

Bin schon auf Vol. 2 gespannt (falls das irgendwann mal erscheinen sollte,wer weiß).

OMFG

2016-11-22 22:17:06

Warum bekomme ich bei dem Cover von "Bittersweet symphony" immer so eine Gänsehaut? Groß!

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