Dream Theater - The astonishing
Roadrunner / WarnerVÖ: 29.01.2016
Verfilmt
Jaja, die Ambitionen. Es ist ja nun nicht so, als hätten Dream Theater vor irgendeiner Herausforderung Angst. Und natürlich haben die Amerikaner im Laufe ihrer mittlerweile auch schon 30 Jahre andauernden Laufbahn den Kanon einer Prog-Band zwischen abendfüllenden Longtracks und verzwickten Konzeptalben nahezu komplett durchdekliniert. Wohin also nun, wenn künstlerisch schon jede Menge gesagt ist? Richtig. Mehr von allem. Vor allem her mit einem Konzept, welches so manchem Science-Fiction-Autor zur Ehre gereichen würde – eine Gruppe Rebellen im 23. Jahrhundert begehrt gegen ein totalitäres Regime auf. Wenn man dann noch weiß, dass der erste Entwurf von "The astonishing" bereits 2013 entstanden ist, wird eine leise Ahnung – die ewigen Skeptiker werden vermutlich eher "Befürchtung" sagen – deutlich. Und in der Tat beeindrucken bereits die nackten Zahlen. 130 Minuten. 34 Tracks. Vierunddreißig, richtig gelesen, auch wenn diverse Zwischenspiele und Soundcollagen einzurechnen sind. Und mit David Campbell einen Komponisten als Berater, der an nicht weniger als 450 Edelmetall-Alben beteiligt war.
Sind Dream Theater, allen voran Gitarrist John Petrucci, der die Hauptlast des Songwriting trug, nun also komplett übergeschnappt? Zumindest lassen die Herren alsbald keinen Zweifel daran, dass "The astonishing" trotz aller Ambitionen, trotz erstmaliger Zusammenarbeit mit einem kompletten Orchester aus Fleisch und Blut immer noch unverkennbar nach Dream Theater klingt. Da sind die ersten verspielten Keyboard-Farbtupfer in "Dystopian adventure", da sind die mächtigen Fills von Drummer Mark Mangini. Und da ist natürlich die flott marschierende Vorab-Single "The gift of music", die die Band auf gewohnt allerhöchstem Niveau eingespielt zeigt. Ebenfalls wird zügig deutlich, dass Campbell nicht nur zuzuschreiben ist, dass sich die Orchesterparts nahezu perfekt in den Gesamteindruck einfügen. Viel wichtiger: Während vor Jahresfrist Blind Guardian mit ihrem nicht minder komplex instrumentierten "Beyond the red mirror" letztlich an dieser Klangwucht scheiterten, ist beispielsweise "Lord Nafaryus" ein wunderbares Beispiel dafür, wie luftig und dennoch druckvoll das Zusammenspiel einer Prog-Metal-Band mit großem Orchester klingen kann, wenn denn ein fähiger Produzent das vordergründige Chaos zu ordnen imstande ist.
Beste Voraussetzungen also dafür, "The astonishing" nachhaltig in den Olymp der Prog-Meisterwerke zu heben, in die Nachbarschaft der großen Rock-Opern wie "Tommy" oder "The wall", welches von Petrucci selbst gerne referenziert wird. Nur: Die Gefahr ist hoch, dass dies nicht klappen wird. Genau genommen kann diese Platte nicht einmal den Vergleich mit den eigenen bisherigen Konzeptwerken standhalten. Damit wir uns hier nicht falsch verstehen – das Niveau, welches Dream Theater an den Tag legen, ist immer noch schwindelerregend hoch. Und Sänger James LaBrie liefert als Interpret verschiedenster Rollen eine seiner besten Leistungen der letzten Jahre ab. Doch im Unterschied zu einem wirklichen Klassiker wie "Metropolis pt. 2: Scenes from a memory" wollen die Songs zu oft eben nicht auch außerhalb des Kontexts funktionieren, sind zu erklärungsbedürftig. Noch problematischer jedoch ist, dass der Konflikt der Story zwischen Technologie-Hörigkeit auf der einen Seite und menschlichen Eigenschaften wie Spiritualität und Kreativität auf der anderen Seite nicht adäquat umgesetzt wird. Den Vorwurf der Technokratie mussten sich Dream Theater schon lange gefallen lassen, hier wird der Eindruck überdeutlich.
Nun wäre es zu einfach, diese Platte als verkopft oder gar als überambitionierten Totalausfall zu bezeichnen. Denn dies wäre weder fair, noch entspräche es der Wahrheit. Im Gegenteil, "The astonishing" schreit förmlich nach einer visuellen Umsetzung, wie sie für die kommende Tour angekündigt ist. Ist man jedoch ausschließlich auf die Musik angewiesen, will das Kopfkino zu oft nicht anspringen. Über weite Strecken gelingt es Dream Theater nicht oder nur nach vielen Durchläufen, den Funken überspringen zu lassen – die überwiegend balladeske Gangart tut ihr Übriges dazu, so dass Tempoverschärfungen wie beim in der Tat fantastischen "Moment of betrayal" geradezu gierig aufgenommen werden. Dass die Band damit versuchen will, die vermeintlich zu engen Grenzen des progressiven Metal zu überschreiten, ist so offensichtlich wie angesichts der bandeigenen Entwicklung unausweichlich. Kurioserweise ist es genau dieses Genre, aus dem die Amerikaner eigentlich ausbrechen wollen, was im zweiten Akt mit teils wahnwitzigen Frickeleien dafür sorgt, dass "The astonishing" gerade noch die Kurve bekommt. Für die Fülle an Ideen, für die bisweilen unfassbare Dichte und natürlich der gewohnten spielerischen Klasse gebührt Dream Theater nach wie vor höchster Respekt. Es scheint, als sei die Liga eines Steven Wilson das Ziel. Doch dazu bedarf es neben dieser Spielfertigkeit jede Menge Glaubwürdigkeit und Leichtigkeit. Und Letzteres fehlt "The astonishing".
Highlights & Tracklist
Highlights
- The gift of music
- Three days
- Ravenskill
- Moment of betrayal
Tracklist
- CD 1
- Descent of the NOMACS
- Dystopian overture
- The gift of music
- The answer
- A better life
- Lord Nafaryus
- A savior in the square
- When your time has come
- Act of Faythe
- Three days
- The hovering sojourn
- Brother, can you hear me?
- A life left behind
- Ravenskill
- Chosen
- A tempting offer
- Digital discord
- The X aspect
- A new beginning
- The road to revolution
- CD 2
- 2285 Entr'acte
- Moment of betrayal
- Heaven's cove
- Begin again
- The path that divides
- Machine chatter
- The walking shadow
- My last farewell
- Losing Faythe
- Whispers on the wind
- Hymn of a thousand voices
- Our new world
- Power down
- Astonishing
Im Forum kommentieren
nörtz
2018-08-25 18:43:26
Willst du bei der Songbewertung mitmachen?
Drop
2018-08-25 17:02:58
Das hat tatsächlich einer bei rateyourmusic in seiner Lieblingsalben aller Zeiten Liste auf Platz 1, was es nicht alles gibt! Aber ich finde The Astonishing auch nicht so schlecht, ist zwar viel Schmalz aber sind auch schöne Momente dabei. Würde ich zur besseren Hälfte der Alben von Dream Theater zählen.
Qwe
2017-02-05 14:56:12
Zugabe bei der Images And Words Jubiläumstour ist die komplette A Change Of Seasons Suite! Samstag geht es nach Düsseldorf...
Bonzo
2016-11-24 11:11:35
Kommen 2017 wieder auf Tour und spielen die komplette Images And Words. Das Album besteht ja quasi nur aus Bandklassikern. Sicherlich reizvoller als die Tour zum letzten Album.
Oh ja, das wird hoffentlich toll. Habe mich vor 10 Jahren geärgert bei einem ähnlichen Event nicht dabei gewesen zu sein. Rudess soll nur bitte die Keyboardpassagen so original wie möglich halten.
Superhelge
2016-11-23 23:24:29
Na ja es ist ja such ein Musical als Progrock-Oper getarnt... Problem ist nur dass viele Bands das schon viel besser hinbekommen haben...
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